Israelreise vom

16. Februar bis 20. März 2023


26. Februar, 2023

Zurück In Israel


Ich bin jetzt seit 10 Tagen in Israel und werde drei weitere Wochen bleiben. Hauptzweck der Reise ist die Recherche zum Buch über Jochanan Valfer, den Mannheimer, der mit 15 Jahren 1938 seine Aliya nach Palästina machte, um den Nazis zu entfliehen. Hauptthema und alle Zeit gegenwärtig ist freilich die schwerste Krise seit Gründung des Staates Israel, wie Präsident Herzog am Wochenende laut Haaeretz sagte. Netanjahus extreme Rechtskoalition will das Justizsystem zerschlagen, um mit einfachen Mehrheiten im Parlament alle Gesetze durchbringen zu können. Das soll natürlich ihm in seinem immer noch anhängigen Prozess nützen, aber auch seinen kriminellen Partnern in der Regierung. Andere Folgen könnten weit schlimmer sein: der willkürlichen Siedlungspolitik wären Tor und Tür geöffnet, Soldaten würden verstärkt in Gewissenskonflikte geraten, wenn sie Gesetzte durchsetzen sollen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, Frauenrechte und Rechte der arabischen Minderheit könnten im Handumdrehen gecancelt werden. Ich war jetzt zweimal bei den Protestveranstaltungen in Kfar Saba, einer Stadt mit ca. 100.000 Einwohnern 30 km nördlich von Tel Aviv. Sie waren Teil der landesweiten Proteste, die wöchentlich am Samstagabend nun zum 8. Mal stattfanden. Die Teilnehmerzahl hat gestern noch einmal zugenommen, landesweit waren wohl um die 200.000 Menschen auf der Straße.


Die Stimmung gestern war lauter, härter, entschlossener. Immer wieder werden die Rednerinnen von Rufen wie "Demokratie", "Schande", "Bibi geh nach Hause", wahlweise "...ins Gefängnis " unterbrochen, aber auch "kein Faschismus!" ist manchmal zu hören. Die Demo ist von der Zivilgesellschaft organisiert. Es sprechen Knessetmitglieder aus der vorherigen Regierungskoalition, eine Frauenrechtlerin, eine arabische Frau, eine 21- jährige für die Kinder und die Jugend, ein homosexueller Abgeordneter, Ex- Armee- und Polizeiführungskräfte und WissenschaftlerInnen. Netanjahu hat der Protestbewegung im Vorfeld mit der Faust gedroht, was die Empörung sicher gesteigert hat. Immer wieder ist auch von Bürgerkrieg die Rede, Gerüchte machen die Runde, dass Bibis Sohn rechtsradikale Schlägertrupps mobilisiert. Dennoch ist die Stimmung überwiegend gelöst. Das Fahnenmeer und die Nationalhymne am Ende zeigen, dass man sich national und bunt versteht. Mein Begleiter Avner hofft, dass sich die liberalen Rechten und die liberalen Religiösen verstärkt den Protesten anschließen, was Bibi zu Fall bringen könnte. Eindrucksvoll war für mich besonders die Jugendvertreterin. Sie meinte, dass wir jetzt endlich kapieren, was gemeint ist, wenn in der Schule über Demokratie gelernt wurde. Vielleicht ist Optimismus doch angebracht, weil diese Bewegung nicht nur in Aufruhr ist, sondern auch den Willen und die Struktur hat, erfolgreich zu sein.


14. März, 2023

Neuer Rekord bei Protesten










Am Abend zuvor habe ich beim Schabbatessen eine interessante Diskussion unter lauter Netanjahugegnern erlebt. Alle sind sich einig, dass wir uns mitten in der größten Krise Israels befinden trotz diverser Kriege in der Vergangenheit. Die Unterschiede sind:


  • Es ist nichts mehr zu machen, Israel ist am Ende und so ist es schon, seit es sich als jüdischen Staat versteht. Jüdisch und demokratisch geht nicht. Die Unterdrückung der Araber musste zum Ende des Staates führen.


  • Die Krise ist tiefgreifend, aber nicht entschieden. Wer kann und will, setzt sich mit einer möglichen Auswanderung auseinander. Viele haben ausländische Pässe beantragt. In einer Theokratie wollen sie nicht leben.


  • Der Geist des Zionismus ist stärker. Die vielen Flaggen zeigen es. Wir lassen uns diesen hart erkämpften Staat nicht kaputt machen. Die Hymne Hatikwa bedeutet Hoffnung, wir singen sie auch jetzt nicht umsonst.


Als notorischen Bloch-Anhänger mit seinem "Prinzip Hoffnung " ist mir die letzte Position natürlich am nächsten. Der stärkste Protesttag war letzten Donnerstag. Die Autobahn Ayalon von Tel Aviv in den Norden wurde blockiert, ebenso wie die Zufahrt zum Flughafen Ben Gurion. Bibis Abflug nach Italien wurde dadurch und durch die Weigerung der meisten Piloten, ihn zu fliegen, behindert. Hinzu kam, dass in Rom zunächst niemand für ihn übersetzen wollte. Ben Gvir, der Sicherheitsminister, hatte sich zum Flughafen begeben, um das Kommando bei eventueller Eskalation zu übernehmen. Dann kam der Terroranschlag in Tel Aviv und alle Protestmaßnahmen wurden eingestellt. Seit gestern ist der andere Rechtsaußen Smotrich auf Staatsbesuch in den USA, wo ihn laut der Jüdischen Allgemeinen niemand empfangen will. Netanjahu schwafelt zwar immer noch von Demonstranten, die sich wahlweise wie Impfgegner oder Terroristen verhalten, aber die Realität hat ihn spätestens eingeholt, seit Staatspräsident Herzog eingegriffen hat und auf einen Kompromiss in der Knesseth drängt. Dort allerdings stehen die Zeichen eher auf weiterem Durchpeitschen der "Reform " bzw Boykott des Parlaments durch die Opposition.


Ich bin inzwischen für die letzten Tage dieses Aufenthalts auch in Jerusalem angelangt, müde und voller Erfahrungen und Begegnungen in den letzten vier Wochen. Heute gibt es viel vom dringend benötigten Regen und Zeit zum Schreiben.



Am letzten Samstagabend waren nach Angaben der Veranstalter etwa eine halbe Million Menschen auf den Straßen in Israel,um gegen die Justizreform der extremen Rechtsregierung zu protestieren. Die Medien sprechen etwa von der Hälfte, auf alle Fälle waren es die größten Demonstrationen seit Staatsgründung. Ich war in Tel Aviv dabei, wo ca.160.000 gegen Netanjahus "Coup" mobil machten. Auch Likud-Anhänger waren zu sehen und bekamen Sonderapplaus. Immer mehr wird der Protest zu einem Kampf der "Säkularen" gegen die Religiösen bzw. gegen den religiösen Fundamentalismus.


Arie, mein Begleiter, hatte ein entsprechendes Plakat gestaltet mit der Anspielung auf die "Opferung Isaaks": Möge Gott den Killern der Demokratie in die Arme fallen wie Abraham, der bereit war, seinen liebsten Sohn zu opfern.

2. April, 2023

Rückblick Teil 1


Hauptzweck der Reise war es, Material zu sammeln für ein Buch über die beiden Mannheimer Brüder Karl-Heinz und Gerhard Valfer, das in absehbarer Zeit im Feudenheimer Waldkirch-Verlag erscheinen soll. Ich hatte Jochanan Valfer im Mai 2011 kennengelernt, als er auf Einladung der Stadt zusammen mit seinem Sohn Zeevi nach Mannheim gekommen war. Wir freundeten uns an und bei jedem folgenden Israel-Besuch habe ich ihn in Haifa, in der Bikurimstraße, besucht. Er erzählte mir einiges aus seiner Lebensgeschichte, z.B. wie aus Karl- Heinz 1938 im Handumdrehen Jochanan geworden war, nachdem er im Alter von 15 Jahren auf der Flucht vor den Nazis ins damalige Palästina ausgewandert war. Es stellte sich schnell heraus, dass wir dieselben literarischen Vorlieben hatten: Er hatte wie ich so ziemlich alles von den israelischen Schriftstellern Amos Oz, David Grossman, Yoram Kaniuk und Meir Shalev gelesen, aber auch die deutschen Böll, Grass und Lenz waren ihm vertraut. An seiner eigenen Lebensgeschichte schrieb er auch. Er hätte sie mir auch zum Lesen gegeben, wollte sie aber vorher noch abschließen.  Vor einigen Jahren verlor ich den Kontakt zu ihm,  bedingt auch durch seine zunehmende Schwerhörigkeit. Aber seine Memoiren ließen mich nicht in Ruhe, ich wollte sie unbedingt lesen.  In der Corona- Zeit kam ich in Kontakt mit Sara von Schwarze und erzählte ihr bei einem Zoom-Gespräch von Jochanan. Sie meinte, das sei doch genau ihr Job, solche Sachen zu recherchieren, und bald darauf gab es unter ihrer Moderation ein Zoom- Gespräch mit den vier Kindern von Jochanan. Ich erfuhr, dass er inzwischen verstorben ist, er wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Seine Memoiren aber existierten, er hatte sie an Schabbaten weitgehend am Telefon seiner Tochter Liora diktiert. Inzwischen sind sie aus dem Hebräischen von Oded Netivi ins Deutsche übersetzt worden. Sie haben einen Umfang von knapp 100 Seiten. Zusammen mit einem Buch über seinen Bruder Gerhard („Uncle Jerry“), das in den USA erschienen ist, sollen sie die Grundlage für dass erwähnte Buch bilden. Der jüngere Bruder hatte Karl- Heinz nach Palästina folgen wollen, aber der Ausbruch des Krieges verhinderte seine Aliya. Zunächst war es Gerd gelungen, nach Dänemark zu fliehen, dann aber war er ins KZ Theresienstadt verschleppt worden wie auch die Eltern der Brüder. Nach der Befreiung durch die Rote Armee waren Gerhard und die Eltern in die USA ausgewandert. Im vergangenen Jahr ist auch er verstorben. Ich hatte noch Gelegenheit, eine Woche vor seinem Tod mit ihm zu telefonieren, er sprach Deutsch und erinnerte sich gerne an das Restaurant der Großmutter, seine Schule und die Theateraufführungen im alten Nationaltheater.

 

Nun also zur Reise. Jochanans Sohn Gabi hatte mich im Sommer besucht und mir angeboten, mich bei allen Erkundungen zu unterstützen. Ich war also mehr als zwei Wochen sein Gast im Kibbuz Eyal, nahe der 100.000 Einwohnerstadt  Kfar Saba, unmittelbar an der Grenze zum Autonomiegebiet Palästina. Gabi ist Kibbuznik mit Leib und Seele und macht seinem Vater alle Ehre, denn auch der hatte sich in hohem Maß mit der Kibbuz-Idee identifiziert und die Pionierzeit noch miterlebt. Schon am ersten Schabbat-Abend lernte ich fast seine gesamte Familie kennen und hatte viel Spaß mit seinen Enkelkindern, die sich köstlich über meine Ivrit-Versuche amüsierten. Eyal hat im Grunde  alles, was einen Kibbuz auszeichnet: riesige Avocado-Plantagen sind die Verbindung zu der Zeit, als die Kibbuzim fast ausschließlich für die  Landwirtschaft produzierten; ein großer Speisesaal für gut 200 Menschen, in dem Schulkinder, die Beschäftigten in den Kibbuz-Betrieben und die Rentner täglich essen; eng aneinander angrenzende Einfamilienhäuser mit blühenden Gärten und den ein oder anderen modernen Betrieb, in denen freilich die Privatisierung weit fortgeschritten ist. Man kann immer noch Kibbuz-Mitglied sein mit gewissen Privilegien, wie z.B.  beim Bau oder Umbau von Gebäuden. Ich durfte die obere Wohnung nutzen, mit der irgendwann mal das Haus mit relativ kleiner Grundfläche aufgestockt worden war.

 

Gabi fuhr mit mir nach dem ersten Wochenende zum Kibbuz Ginnegar in der Jesreel-Ebene, der ersten Station seines Vaters im Jahr 1938. Die Leiterin des Kibbuz-Archivs war äußerst zuvor kommend und richtig angetan von unserem Anliegen, Spuren von Jochanan zu finden. Wir hatten Glück, denn Jochanan war als 15-jähriger mit einer Jugendgruppe gekommen, die überwiegend von deutschstämmigen Juden geprägt war, den sogenannten Jeckes. Die sind für Ordnung bekannt und so fanden wir etliche Dokumente, in denen Jochanan erwähnt war, anfangs übrigens noch als Karl-Heinz Valfer. In seinen Memoiren schildert er die Umstände seiner Umbenennung. „Jeckes“ wurde übrigens zum geflügelten Wort nicht nur auf dieser Fahrt. Gabi und ich „beschuldigten“ uns gegenseitig typische Jeckes zu sein, je nachdem, ob uns Ordnung und Zuverlässigkeit gerade passten oder nicht. Gabi ist auch in Besitz der Dokumente, die sein Vater hinterlassen hat. Wir haben alles durchgeschaut und immer wieder entfuhr im ein freudiges „Abba“, wenn er auf akribisch formulierte und geordnete Texte stieß. Das Bildmaterial befindet sich bei Schwester Liora, die nur wenige km entfernt vom Kibbuz lebt. Auch mit ihr habe ich viel Zeit verbracht und unendlich viele Bilder aus „Abbas“ Leben kopiert.

 

Ein besonderes Highlight war für mich der Besuch des Jeckes- Museums in Haifa. Das ursprüngliche in Tefen an der libanesischen Grenze war geschlossen worden. Nun soll bald im Hecht- Museum der Universität eine Neueröffnung erfolgen. Ich sprach mit der Leiterin des Archivs über das Buchprojekt und stieß auf großes Interesse, zumal sie mir erzählte, dass eine Doktorarbeit geplant sei, die sich speziell mit den Mannheimer Jeckes beschäftigen soll. Da müssten Jochanans Erinnerungen eigentlich eine Steilvorlage sein, denn er ist ein sehr reflektierter und strukturierter Zeitzeuge. Auch das Marchivum in Mannheim müsste mit den digitalisierten Ausgaben des „Israelitischen Gemeindeblatts“ von 1922 bis 1938 eine hervorragende Quelle sein. In Haifa durfte ich zwei Nächte bei Michael Valfer, einem weiteren Verwandten der Familie, bleiben. Er wohnt in der Nähe der Uni hoch über Haifa mit atemberaubenden Blick auf Stadt und Hafen. Er spricht Deutsch und begibt sich immer mal wieder auf die Spuren der Familie, die ursprünglich aus dem Elsass stammt und später über den Rhein in den Schwarzwald zog. Demnächst will er mit zwei  seiner Enkel wieder mal hinreisen. Er hofft, dass sie das Erbe pflegen und vor allem auch Deutsch lernen.

 

 

 

 

25. April, 2023

Rückblick Teil 2


Die vielen Begegnungen im Zusammenhang mit der Recherche haben mir noch mal einen anderen Blick auf Israel verschafft. Sonst war der Ausgangspunkt in der Regel Jerusalem gewesen: Geschichte, Religion, Archäologie waren meine Hauptinteressen. Nun war ich auf einmal mitten drin im säkularen, pulsierenden Leben in Israel. Ich verbrachte eine weitere Woche in Tel Aviv und Jaffa, durfte bei Freunden wohnen, ihren Alltag teilen, Ausflüge mit ihnen machen ganz in den Süden nach Eilat und ans Tote Meer, aber auch nach Norden nach Caesarea, wo wir plötzlich zu Gast waren bei weiteren Freunden, die Nachbarn von Netanjahus Ferienvilla am Mittelmeer waren. Manchmal werde ich in Deutschland gefragt: „Ja, kann man sich denn in Israel frei bewegen?“ oder auch: „Gibt es denn dort so was wie Meinungsfreiheit?“ Oder: „Ist es nicht gefährlich auf Demonstrationen zu gehen?“ Solche Fragen verblüffen mich, denn nichts ist in Israel normaler als sich frei zu bewegen und tagtäglich das große Wort Freiheit in Anspruch zu nehmen. Besonders in der Küstenebene in Tel Aviv und dem großen Einzugsgebiet der Metropole herrscht ein Lebensstil demgegenüber man das Leben in Deutschland als ziemlich behäbig empfinden muss. Gesetze und Regeln gelten eher als Vorschläge für das Verhalten, nicht als Verpflichtung. Wie schon erwähnt, ist die Jeckes-Mentalität Anlass zu Spott und Frotzeleien, niemand will bieder sein und sich Vorschriften machen lassen, wie er/sie zu leben hat. Als altem Öko war es mir stets ein Gräuel, wenn man beim Kaffeetrinken, beim Gang auf die Toilette, beim Einkaufen und vielem anderen einfach den Motor  laufen lässt - fünf bis zehn Minuten sind da keine Seltenheit. Anfangs hielt ich das noch für Einzelfälle, aber dann habe ich gecheckt, dass dieses Verhalten die Regel  ist. Als Gast im Land habe ich mich kaum getraut, das anzusprechen. Wenn ich es doch tat, war die Reaktion - „oh ja, stimmt“ und der Motor wurde abgeschaltet. Natürlich habe ich Hoffnung, dass sich das auch mal irgendwann ändern wird. Vor 20 Jahren hätte ich mich niemals getraut, einen Zebrastreifen zu betreten, wenn ein Auto auch nur in der Nähe war. Heute halten alle respektvoll vor den Fußgängern und warten mehr oder weniger geduldig bis es weiter geht. Telefonieren beim Autofahren hingegen wird weiterhin als Grundrecht angesehen und manch einer bemerkt nicht einmal, dass er beim plötzlichen Spurwechsel einer Kollision gerade noch mal aus dem Weg gegangen ist.

 

Manchmal werde ich auch gefragt: „Wie ist es denn gerade in Israel?“  Ich antworte dann gern: „Ich weiß es nicht. Genau so wenig wie ich weiß, wie es in Deutschland ist.“  Natürlich habe ich einen Blick auf Israel, vielfältiger, differenzierter als vorher. Aber ein Blick oder ein Bild von einem Land, von einer Gesellschaft, ist eben nur ein Blick oder ein  Bild von der Situation. Niemand sieht das Ganze, die Zeit der Ideologien, die eben das beanspruchten, ist vorbei und ist falsch. Auch wer genau hinsieht, sieht etwas anderes nicht. Aber versuchen zu verstehen, was man sieht, kann man schon. Dafür gibt es gute Medien, gute Literatur, gute Gesprächspartner....

 

Übereinstimmung dürfte in vernünftigen Diskursen darin bestehen, dass die liberalen Demokratien global gesehen in die Krise geraten sind. Populismus gedeiht allenthalben, mitunter bekommt er Mehrheiten: Trump, Le Pen, Netanjahu, Orban in einem Atemzug zu nennen, ist richtig. Ursache ist die Krise der „kommunikativen Vernunft“ (Habermas), d.h. qualifizierte Urteile und Meinungen über die wichtigen Fragen in demokratischen Gesellschaften sind zwar noch möglich, können aber aufgrund einer unübersichtlichen Öffentlichkeit kaum noch wahr genommen werden. Das Stichwort Internet soll als Beleg genügen, sinnvolle und unsinnige Beiträge stehen daselbst gleichberechtigt neben einander. Angeblich sind alle Meinungen gleich gut und gleich legitim, was aber Unsinn ist. Immerhin erklärt es, warum Politiker mit unsinnigen Meinungen Mehrheiten gewinnen.

 

Neulich habe ich in einer Fernsehdiskussion wieder die Ansicht gehört, dass was in Amerika/USA passiert, früher oder später auch in Deutschland passieren wird. Ohne auf die alte Diskussion über Henne und Ei eingehen zu wollen, halte ich das für im Prinzip richtig. Nur habe ich auf diesem Blog immer die Ansicht geäußert: Was in Israel gerade passiert, wird früher oder später auch bei uns passieren. Wie gesagt, das darf man nicht zu wörtlich nehmen, aber tatsächlich ist Israel so etwas wie ein Durchlauferhitzer in Bezug auf liberale Demokratien. In der Start-up-Nation gehen neue Entwicklungen schneller voran und kommen schneller an die Öffentlichkeit. Das mag an der Charakterisierung als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ liegen, weil der Kontrast zur nationalen Nachbarschaft so offensichtlich ist. Das liegt aber auch an der Dynamik einer Gesellschaft, die sich den Liberalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Die Freiheit ist, wenn nicht das höchste, so doch eines der höchsten Güter, und wird bis in die Einzelheiten des alltäglichen Lebens praktiziert. Im Straßenverkehr, in der Freizeitgestaltung, im Konsumverhalten- die Freiheit des Individuums liegt allenthalben vor Augen. Und wehe, wenn das in Frage gestellt wird, dann bekommt es auch ein Premierminister vom Schlage Benjamin Netanjahu zu spüren. Laut neuesten Umfragen hat er nur noch etwa 20 % Zustimmung für seine „Politik“.

 

Demnächst gehen die Passah-Ferien zu Ende. Die Regierung hat in der Knesset noch die Mehrheit. Bibi wird mit den Rechtsradikalen und den Religiösen versuchen die Demontage der Justiz

durchzupeitschen. Der Protest seit 15 Wochen von Hunderttausenden Samstag für Samstag auf den Straßen des Landes zeigt, das wird nicht funktionieren, auch nicht mit Gewalt. Aber auch wenn die Regierung scheitert, wird die Lage kaum zu befrieden sein. Auch die Rechten sind auf der Straße. Radikale Palästinenser und Nachbarn werden versuchen, die Lage zu befeuern, einen Vorgeschmack gab es anlässlich der rituellen Ramadan-Unruhen vor den Ferien. Die pessimistische Stimmung, die mir oft - auch bei den Protesten - begegnet ist, hat leider ihre Berechtigung. Auf lange Sicht scheint klar zu sein, dass die „größte Krise seit der Staatsgründung“ (Staatspräsident Herzog und viele andere) andauern wird.