Am Samstag, dem 8. und letzten Tag des jüdischen Laubhüttenfests (Schemini Azeret), hat die Hamas in einer gründlich vorbereiteten Aktion Israel überfallen, Hunderte Menschen getötet, ist in Wohnungen an den Grenzorten eingedrungen, hat gefoltert und Geiseln genommen, verschanzt sich bis jetzt (9.10.23) und verbreitet Terror in kaum vorstellbarem Ausmaß. Manche sprechen von Israels 9/11, andere von Israels Pearl Harbor, auch der Vergleich mit dem Jom-Kippur-Krieg vor ziemlich genau 50 Jahren ist naheliegend, als ebenfalls an einem jüdischen Feiertag völlig überraschend die arabischen Nachbarn Israel angriffen und für eine hohe Zahl an Opfern unter Soldaten und Zivilbevölkerung sorgten. Als die Menschen um 6.30 Uhr Ortszeit von den Luftalarm-Sirenen geweckt wurden, gingen wohl alle von einem der üblichen Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen aus, verbunden mit dem üblichen Aufsuchen der Schutzräume und der baldigen Entwarnung, nachdem Luftabwehr und Luftwaffe ihre Arbeit getan hatten. Nicht so an diesem Schabbat: Offensichtlich waren die Raketen mehr Täuschung als Angriff, denn dieser erfolgte mit ganzer Wucht, als der Grenzzaun an mehreren Stellen gleichzeitig durchbrochen wurde und die Terroristen „zu Lande, zu Wasser und in der Luft“ infiltrierten.
Heute am 3. Tag des Krieges ist das Ausmaß der Gewalt fürchterlich: mehr als 800 Tote in Israel, 2.500 Verletzte, über 100 Geiselnahmen und Entführungen nach Gaza, andauernde Kämpfe im Land, traumatisierte Menschen ohne Ende. Bei Gegenangriffen der israelischen Armee im Gazastreifen wurden bereits 500 Menschen getötet, die Zahl der Verwundeten liegt vorerst bei über 2.000. Besonderes Entsetzen hat ein Massaker an Festival-Teilnehmern ausgelöst: mehr als 250 Leichen sind auf dem Festgelände beim Kibbuz Reʿim gefunden worden. Auch eine relativ hohe Zahl von Ausländern ist unter den Todesopfern und Entführten, was vermutlich mit dem internationalen Charakter des Rave-Festivals zusammenhängt.
In unseren Medien werden hilflose Sprechblasen wie „Gewaltspirale“ bemüht (mehrfach bei Phoenix am 8.10). Ich sehe darin eine unglaubliche Verharmlosung des Terrors. Als hätte „Gewalt“ ihre eigenen Gesetze. Das ist Unsinn: es gibt Täter und Opfer, es gibt Ursache und Wirkung. In fundamental-pazifistischen Kreisen mag man das anders sehen, aber die Tatsachen zeigen die Wirklichkeit, wie sie ist: Der Terror der Hamas richtet sich gegen die Zivilbevölkerung, auch Kinder werden als „zionistische Soldaten“ betrachtet, das Hinschlachten von Hunderten friedlich Feiernden lässt auf einen Wettbewerb mit russischen Wagner-Soldaten schließen nach dem Motto „Wer kann die grausamsten Kriegsverbrechen?“ Natürlich hat der Staat Israel das Recht und die Pflicht, diese Art von Gewalt gegen seine Staatsbürger so schnell und so wirksam wie möglich zu beenden und womöglich dafür zu sorgen, dass Derartiges in absehbarer Zeit nicht wieder passiert.
Womit wir beim Versagen der Netanjahu-Regierung bei genau dieser Aufgabe wären. Mit seinen rechtsradikalen Kumpanen hat er dem Land einen fast einjährigen Kampf um die Demokratie aufgenötigt. Das Land war zumindest bis zum 7. Oktober 2023 gespalten, Identifikation und Motivation waren gerade bei vielen Reservisten auf dem Nullpunkt. Der Kampf um die Demokratie Woche für Woche am Samstagabend hat Kraft gekostet, über 20% der Bevölkerung haben sich sogar mit dem Gedanken an Auswanderung getragen. Die Regierung war mit dem Falschen beschäftigt: Verbündete wie die USA wurden verprellt, Friedenschancen mit Saudi-Arabien vertan, Militäraktionen im Westjordanland unnötig befeuert (Ben Gvir; Smotrich), die Symbolik von Al-Aksa und Tempelberg verkannt, indem militante Beter unterstützt wurden... Bei all dem scheint die auffällig ruhige Hamas völlig aus dem Fokus verschwunden zu sein. Geheimdienst und Militär haben wohl auch deshalb versagt, weil die Dilettanten in der Regierung zu vielen Dilettanten in wichtigen Positionen die Verantwortung überlassen haben. Mosche Zimmermann, der in Hamburg geborene israelische Historiker, hat es in einem Interview mit der ARD am Sonntag mit der ihm eigenen Präzision und Urteilskraft auf den Punkt gebracht: Diese Regierung hat den Zionismus in Israel untergraben, denn der Zionismus ist entstanden, um Pogrome an Juden zu verhindern, indem man eine sichere Heimstätte in Palästina schafft. Was aber am Wochenende geschehen ist, ist der erste Pogrom auf dem Boden Israels!
Wie wird es weiter gehen? Unklar ist die Lage im Norden. Immer wieder wird von Aktionen der schiitischen Hisbollah berichtet: Raketenangriffe und Eindringen nach Israel. Bisher waren das Aktionen, die das israelische Militär schnell im Griff hatte. Aber was ist, wenn tatsächlich der Iran bei den Ereignissen am Wochenende die Hand im Spiel hatte, möglicherweise sogar federführend war? Dann ist eine Eskalation in den nächsten Tagen an mehreren Fronten nicht auszuschließen. Die USA treffen entsprechend Vorkehrungen und schicken Kriegsschiffe und Flugzeuge ins östliche Mittelmeer. Außerdem gilt Katar als maßgeblicher Unterstützer der Hamas, hat aber in letzter Zeit Friedenssignale Richtung Israel gesandt. Wollen Hamas und Iran das durch Eskalation verhindern? Möglich, aber wohl etwas zu viel konstruiert.
Entscheidend in meinen Augen ist, wie es innenpolitisch in Israel weiter geht. Lapid und Gantz haben Netanjahu eine Notstandsregierung angeboten. Lapid macht zur Bedingung, dass die Rechtsradikalen dafür rausfliegen. Um Politikfähigkeit zivil und militärisch wieder herzustellen, wäre es nach meiner Ansicht die beste Lösung. Aber wie würden die äußerste Rechte reagieren? Sie haben in jüngster Vergangenheit Stärke bewiesen, als sie Gegendemonstrationen gegen die Demokratie-Bewegung organisiert haben. Sie werden sich die Machtpositionen, die sie durch die Koalition mit Netanjahus Likud errungen haben, nicht einfach nehmen lassen. Andererseits wird ohne die Unterstützung durch die zionistischen Säkularen der Machtkampf mit der Hamas nicht zu gewinnen sein. Die Ereignisse vom Wochenende zeigen, dass sich in Gaza etwas grundlegend ändern muss und zwar so, dass die Hamas in der Zukunft keine Rolle mehr spielt. Das wird ohne Invasion und wohl auch ohne erneute Besetzung des Gazastreifens nicht möglich sein. Das wird dauern und hohe Verluste fordern, aber ein Schrecken ohne Ende ist auch keine Lösung. Jedenfalls hat das Wochenende bewirkt, dass die Spaltung des Landes beendet ist und die sogenannte Justizreform vom Tisch ist. Man wird gegen die Aggressoren an einem Strang ziehen, zumindest was die vernünftige Mitte angeht. Meine Hoffnung ist, dass man die Humanität bewahrt und sich nicht auf dasselbe moralische Niveau wie die Terroristen begibt. Noch wird die Zivilbevölkerung vor den Luftschlägen gewarnt, aber schon ist die Rede von der Abriegelung des Gazastreifens, was noch größeres Elend und Not bedeuten würde, als ohnehin schon durch die Herrschaft der Hamas besteht. Auch die Geiseln werden nicht zu retten sein, wenn zu hart vorgegangen wird. Zudem wird man die Ausweitung des Konflikts vermeiden müssen, bevor sich weitere arabische Staaten mit den radikalen Palästinensern solidarisieren.
Zu viele Fragen sind offen und eigentlich sollte man einfach nur sprachlos sein. Aber das geht ja auch nicht.
Mahnwache in Mannheim am 09.10.2023