13. Mai, 2021

Eskalation in Nahost

12. Mai 2021


Am Mittwochmorgen, 12. Mai 2021, während ich das schreibe, sind aus dem Gazastreifen 850 Raketen auf Israel abgefeuert worden, 35 Menschen wurden im Gazastreifen durch israelische Gegenschläge getötet, in Israel kamen bisher fünf Menschen zu Tode. Auf dem Tempelberg in Jerusalem gehen die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und der Polizei weiter, in israelischen Städten mit großem arabischen Bevölkerungsanteil kommt es zu Gewaltakten gegen jüdische Einrichtungen, Unruhen werden auch aus dem Westjordanland, insbesondere Bethlehem, gemeldet. Die internationale Gemeinschaft ruft zum Ende der Gewalt auf, Israel hingegen erwägt mit Bodentruppen im Gazastreifen einzugreifen, was zu längerem Andauern der Gewalt führen dürfte.

Natürlich fragt alle Welt nach den Ursachen über diese doch plötzliche Eskalation und sofort fällt der Name Netanjahu. „Netanjahus grand finale“, schreibt eine Bekannte aus Israel; eine andere meint, seine Härte auf dem Tempelberg hätte das Ganze ausgelöst. Unsere Medien hier fragen sofort, ob ihm das Ganze nützt und sind meist überzeugt, dass es so ist und er sich durch die Eskalation doch noch im Amt halten kann. Indes- so wichtig ist der Mann nicht und es dreht sich auch nicht alles um ihn, obwohl er wohl selbst gerade davon überzeugt ist. So plötzlich die Gewalt am Montag eskaliert ist, sie ist nicht vom Himmel gefallen, und ich bin ziemlich sicher, dass das Ganze nicht allzu viel mit Netanjahu zu tun. Der neuerliche Ausbruch des Konflikts hat sich vielmehr nach und nach hoch geschaukelt und wie so oft sind die Ursachen vielfältig. Ich versuche die Ereignisse hier zusammen zu stellen und folge überwiegend der Darstellung von Haarnetz (engl.) vom 10. Mai 2021: „From TikTok to Temple Mount clashes: 28 Days of violence in Jerusalem.“


  • Zu Beginn des Ramadan, am 12. April, baut die Polizei vor dem Damaskustor Absperrgitter auf, um größere Zusammenkünfte beim Fastenbrechen zu verhindern. Begründet wird das mit fortdauernden Corona-Maßnahmen. Palästinensische Jugendliche sehen in diesen Treffen wohl ein Gewohnheitsrecht und randalieren. Die Polizei setzt u.a. Tränengas ein, um die Maßnahmen durchzusetzen.
  • Unter ultra-orthodoxen Juden und ins besonders in rechten Kreisen kursiert ein Video auf der TikTok-App, wie ein palästinensischer Jugendlicher einem ultraorthodoxen Juden in der Straßenbahn mehrfach ins Gesicht schlägt.
  • Am ersten Ramadan-Freitag (18. April) beschränkt Israel die Zahl der Beter auf dem Tempelberg auf 10.000. Es kommt zu Auseinandersetzungen.
  • Erneut Zusammenstöße am Platz vor dem Damaskustor. Die Polizei setzt Wasserwerfer und berittene Polizei ein, um die Menge aufzulösen.
  • In Jaffa wird ein Rabbi von zwei arabischen Anwohnern geschlagen. Hintergrund sind Grundstücksangelegenheiten.
  • Die rechtsradikale Lehava-Organisation veranstaltet am 22. April einen Marsch durch Jerusalem, auf dem „Tod den Arabern“ gerufen wird. Es kommt zu Zusammenstößen, in deren Verlauf ca. 100 Palästinenser verletzt werden. Vorwürfe werden laut, dass die Polizei einseitig Partei für die Rechten ergriffen hat.
  • 23./24. April. Aus dem Gazastreifen werden 36 Raketen auf Süd-Israel abgefeuert. Die israelische Armee antwortet mit Schlägen auf Hamas-Einrichtungen.
  • Ein jüdischer Autofahrer wird in einem arabischen Stadtteil von Jerusalem angegriffen.
  • Am 25. April werden die Absperrgitter vor dem Damaskustor von der Polizei abgeräumt.
  • 29. April: Palästinenserpräsident Abbas verschiebt die Parlamentswahlen und beschuldigt Israel, dass diese in Ost- Jerusalem verhindert würden. Auch von palästinensischen Gruppierungen wird das als fadenscheinig angesehen. Es kommt zu Protesten.
  • 2. Mai: An einer Kreuzung im Westjordanland werden drei Yeshiva-Studenten von einem Auto aus angeschossen. Einer stirbt, die beiden anderen sind schwer verletzt. Am selben Tag wird eine Palästinenserin von Soldaten an einem Check-Point erschossen, sie wollte offenbar ein Messerattentat auf Soldaten verüben.
  • Ein 16-jähriger Palästinenser wird bei Zusammenstößen in der West-Bank getötet.
  • 6. Mai und an den nächsten Tagen: Feuerballons werden vom Gazastreifen aus auf israelisches Gebiet geschickt und verursachen Großbrände. Ein rechtsradikales Knesset-Mitglied schließt ein Büro in Sheik Jarrah, dem arabischen Wohnviertel beim Damaskustor, nachdem es seit der Eröffnung zu Zusammenstößen gekommen war. Er erklärt, die Schließung auf Bitte Netanjahus getan zu haben.
  • 7. Mai: 205 Palästinenser und 17 Polizisten werden bei Auseinandersetzungen auf dem Gelände vor der Al-Aqsa Moschee verletzt. 70.000 Beter waren zum Freitagsgebet gekommen, wovon einige die Sicherheitskräfte angegriffen haben.
  • 8. Mai: Die Polizei blockiert Busse mit Betern auf dem Weg nach Jerusalem. Erneut werden ca.100 Palästinenser bei den Auseinandersetzungen verletzt. Erneut marschieren rechtsradikale jüdische Studenten durch die Altstadt.
  • Auf Initiative von Verteidigungsminister Gantz wird ein Gerichtstermin im Zusammenhang mit der Räumung von Häusern in Sheik-Jarrah verschoben. 
  • Proteste am Grenzzaun zu Gaza und erneute Raketenangriffe auf Israel. Die Armee greift Hamas-Posten an.
  • 10. Mai: Eskalation der Kämpfe auf dem Tempelberg. Israel versucht die Lage zu beruhigen, indem die Räumung von Häusern vorläufig verschoben wird. Der Marsch zum Jerusalem-Tag durch die Altstadt wird im letzten Moment verlegt. Die Hamas setzt ein Ultimatum zur Räumung des Tempelbergs. Nach Ablauf wird zum ersten Mal vom Gazastreifen auch Jerusalem beschossen. Die Knesset wird vorsorglich geräumt.


13. Mai 2021


    Inzwischen hat die Hamas über 1160 Raketen auf Israel abgefeuert, die Zahl der Todesopfer ist auf 72 gestiegen, in israelischen Städten und Dörfern mit arabisch-jüdischer Bevölkerung kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Eigentlich wollte ich nach Darstellung der Ereignisse bis letzten Montag auf einige Hintergründe eingehen, aber in der jetzigen Lage verbietet sich das aus meiner Sicht. Denn jede Analyse muss den Eindruck erwecken, dass halt zu jedem Konflikt immer zwei gehören und somit auch beide „schuld“ sind. Diese Sicht aber ist zynisch, denn „schuld“ und verantwortlich an dem ganzen Schlamassel ist die Hamas und alle ihre Mitkämpfer, wo immer sie sich derzeit aufhalten. Das Ausmaß der derzeitigen Gewalt hat ihre Ursache allein in dem fanatischen Hass und dem Willen zur Vernichtung Israels. Es wird immer mal wieder von einem „asymmetrischen Konflikt“ geredet, was in der Tat richtig ist: Das Menschenbild der Terroristen ist geprägt vom Märtyrer-Wahnsinn. Jeder Toter ist ein guter Toter, Juden sowieso, aber auch Zivilisten in Gaza, die großteils durch „friendly fire" der Hamas sterben. Auch Kinder werden so zu Märtyrern, schließlich sind sie im Kampf gegen Israel gefallen. Die „böse“ israelische Armee agiert anders. Als kürzlich das mehrstöckige Verwaltungsgebäude der Hamas spektakulär zum Einsturz gebracht wurde, wurden potentiell Anwesende rechtzeitig gewarnt und selbst die Hamas berichtete von keinen Todesopfern in diesem Zusammenhang. „Vergeltung“ wie in unseren Medien ständig zu hören, sieht anders aus. Es wird gegenwärtig nicht nur mit ungleichen Waffen, sondern auch mit ungleicher Moral gekämpft. So viel muss klar sein, bevor über Hintergründe spekuliert wird.


    Daher im Moment nur so viel:


    1. Auch wenn Netanjahu der Krieg künftig irgendwie nützen sollte, bewusst herbei geführt hat er ihn nicht.
    2. Auch die Hamas hat den Krieg so nicht „geplant“, er ist ihr vielmehr „wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen“, wie sich ein Funktionär in Hebron ausdrückte (Haaretz, 13.05.2021). Gemeint ist die Steilvorlage, die Abbas mit der Absage der Wahl geliefert hat und die gewalttätigen Unruhen in Al Quds, dem „heiligen“ Jerusalem.
    3. Das Ausmaß der Aufrüstung in Gaza hat sowohl die Armee als auch die Regierung Israels überrascht. Zu Recht fragt man sich, wie es dazu kommen konnte.
    4. Nicht absehbar ist die Entwicklung innerhalb Israels. Die Beziehungen zwischen Arabern und Juden werden nachhaltig gestört sein. Die Illusion, dass mit Einbeziehung arabischer Parteien in die Regierungsbildung eine Art Normalisierung entstehen könnte, ist wohl dahin.
    5. Ursache des ganzen Elends ist letztlich der ungelöste israelisch-palästinensische Konflikt. Ich hatte das mit der Formulierung „gestaute Zeit“ zu erklären versucht (vgl. Beitrag vom 18. September 2020 „Guten Rutsch und Schana Tova“). Natürlich ist alle Welt, die UN, die USA, die EU usw. wieder auf das „Pulverfass Nahost“ aufmerksam geworden und die Friedensbemühungen führen hoffentlich bald zum Erfolg, dass aber irgendwas Gutes dabei heraus kommen könnte, außer dass Sterben und Zerstören ein Ende haben, kann ich im Moment nicht erkennen. 
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