22. Apr, 2022

Tanz auf dem Vulkan

Am 24. Februar ließ Putin seine Truppen in der Ukraine einmarschieren und mir wurde nun auch rechts ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Als ich aus der Narkose aufwachte, sah ich für den Rest des Tages die Kriegsberichterstattung im Fernsehen. In meinem benebelten Hirn setzte sich unter anderem der Satz von Außenministerin Baerbock fest: „Wir sind heute Morgen in einer anderen Welt aufgewacht!“. Genau, dachte ich, alles ist irgendwie unwirklich, nichts ist mehr wie es war. Als die Wirkung der Narkose nachließ und, wie ich mir einbilde, das Denken wieder besser funktionierte, schien mir der Satz immer zweifelhafter zu werden. War die Welt je anders? Und- sind wir wirklich aufgewacht? Als dann am Sonntag darauf der Bundestag in seiner Sondersitzung mit großer Mehrheit die zügige Militarisierung Deutschlands mit den 100 Milliarden für die Bundeswehr beschloss, war mir klar, dass die Welt noch die alte war, nur aufgescheuchter, panischer auf die alten Mittel setzend, damit alles so bleibt, wie es immer schon war.

Ich glaube aber, dass sich der alte Verdacht von Marie-Luise Kaschnitz bewahrheitet:

Steht noch dahin

Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden,

ob wir eines natürlichen Todes sterben,

ob wir nicht wieder hungern,

Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen,

ob wir getrieben werden in Rudeln,

wir haben’s gesehen.

Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen,

den Nächsten belauern,

vom Nächsten belauert werden,

und bei dem Wort Freiheit

weinen müssen.

Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett

oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz,

ob wir es fertigbringen mit

einer Hoffnung zu sterben,

steht noch dahin,

steht alles noch dahin.[1]

Die Menschen in der Ukraine erleben es jetzt, ob Ähnliches auch auf uns zukommt, steht noch dahin. Wir wissen jetzt, was wir immer hätten wissen können: durch Tschetschenien, Georgien, Syrien zieht sich Putins Blutspur- im Jemen, Afghanistan, Zentralafrika legen sie andere. Die Einschläge kommen näher, die Ukraine liegt in Europa, der Krieg ist nicht mehr weit weg. Die Betroffenheit ist groß; die Bereitschaft, Geflüchtete aufzunehmen, steigt; harte Sanktionen gegen Russland werden mehrheitlich befürwortet; fast jeden Abend gibt es nach den Nachrichten einen „Brennpunkt“ zum Ukraine-Krieg. Allerdings sind die Befindlichkeiten im Land widersprüchlich: parallel zum Entsetzen über die Grausamkeit des Krieges sorgt man sich um die Engpässe bei Sonnenblumenöl und Weizenmehl, die Bundesregierung glaubt, dem Volk keinen höheren Benzinpreis als 2 Euro pro Liter zumuten zu können, die innere Zerrissenheit wegen der (ehemaligen) pazifistischen Gesinnung scheint bei vielen größer zu sein als das schreckliche Leiden der Kriegsopfer. Ich glaube nicht, dass unser Land „ den Schuss wirklich gehört hat.“ Die Sehnsucht nach dem normalen Leben ist groß und verständlich, ein besseres Symbol als Kanzler Scholz kann es dafür nicht geben. Er steht für die viel beschworene „Friedensdividende“. Seine Politik soll dafür sorgen, das immer alles so weiter geht. Er wurde zu Recht gewählt, weil weder die Welt eine andere ist und weil sich unser Land zwar aufscheuchen lässt, aber nicht wirklich aufwachen will.

Walter Benjamin hatte schon in der Weimarer Republik „die alltägliche Lebensart des deutschen Bürgers“ mit dem Satz diagnostiziert: „Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe.“ [2] Und: „...stabile Verhältnisse brauchen nie und nimmer angenehme Verhältnisse zu sein und schon vor dem Kriege gab es Schichten, für welche die stabilisierten Verhältnisse das stabilisierte Elend waren“ (in: Einbahnstraße 1928). So ist es offenbar bis heute um die deutsche Mentalität bestellt: das stabilisierte Elend interessiert uns so lange nicht, bis es uns selbst betrifft. Ein anderes, nahezu „apokalyptisches Beispiel“: Die Menschen im Ahrtal haben nicht mehr und nicht weniger „Schuld“ am Klimawandel als wir Nicht-Betroffenen, aber sie sind die Opfer. Eine Zeitlang waren Betroffenheit und Hilfsbereitschaft groß- es hätte ja uns alle treffen können. Aber inzwischen geht es 'so weiter', die Klimakatastrophe interessiert kaum noch, wir wollen stabile Verhältnisse in allen Krisen. Vielleicht steht Europa schon nächsten Sonntag die nächste ins Haus, wenn Le Pen die Stichwahl gegen Macron gewinnt. Und sollte der Kelch noch mal an uns vorüber gehen, dann könnte die nächste Katastrophe bei der nächsten US-Wahl ausbrechen, wenn Trump oder einer seiner Gesinnungsgenossen gewählt wird. Wahrhaft apokalyptische Zeiten!

Was tun? Die Welt ist, wie sie ist! Aufgeweckter Realismus tut Not. Der Versuchung, auf „stabile Verhältnisse“ zu hoffen, sollten wir widerstehen, das Böse kann auch uns treffen. Ich halte nichts davon, die entsprechende Bitte im Vaterunser umzuformulieren. [3]

Wie so oft hilft mir ein Blick auf Israel. Dort gehören die Krisen wahrhaftig zum Alltag. Jederzeit können islamistische Terroristen den Dschihad ausrufen und Raketen aus Süd und Nord auf das Land abfeuern. Jederzeit sind Terroranschläge möglich wie in den letzten Wochen, als 14 Menschen getötet wurden. Jederzeit kann sich die weltpolitische Lage so drehen, dass der Mini-Staat alleine dasteht und putineskem Vernichtungswahn ausgeliefert ist. Ari Shavit hat die Situation Israels in seinem sehr lesenswerten Buch „Mein gelobtes Land“ auf über 500 Seiten eindrücklich beschrieben. [4] In seinem Fazit heißt es: „ Es hat die Hoffnung auf Frieden gegeben, aber es wird kein Frieden sein. Nicht so bald. Nicht in dieser Generation.....Der jüdische Staat ähnelt keiner anderen Nation. Was diese Nation zu bieten hat, ist nicht Sicherheit, Wohlbefinden oder Seelenfrieden, sondern die Intensität eines Lebens auf dem Vulkan. Den Adrenalinrausch eines Lebens in Gefahr, eines lustvollen Lebens, eines Lebens bis zum Exzess. Sollte heute Nacht ein Vulkan vom Schlage des Vesuvs ausbrechen und unser Pompeji verschütten, dann werden wir erstarren als das, was wir sind: ein lebenshungriges Volk. Als Menschen, die dem Tod entronnen und vom Tod umgeben sind und dennoch ein Riesenspektakel gefeiert haben. Als Menschen, die den Tanz des Lebens bis zum letzten Augenblick getanzt haben.“ [5]

Als der damalige Außenminister Joschka Fischer im Jahr 2001 zu Vermittlungsgesprächen zwischen Israelis und Palästinensern im Land war, hat er in Tel Aviv eine Art Vulkanausbruch erlebt. Er hörte mit eigenen Ohren die Explosion eines Terroranschlags am Strand von Tel Aviv, bei dem in der Discothek Dolphinarium 21 feiernde junge Leute getötet wurden. [6] Das meint Shavit mit „Tanz auf dem Vulkan“: alles kann jederzeit vorbei sein, aber zum Leben, zum lustvollen Leben, gibt es keine Alternative. Junge Israelis, zumindest die in der Partyszene von Tel Aviv, sind sich dessen an jedem Tag bewusst. Sicherheit und Stabilität sind für sie Fremdwörter, wiewohl jede Regierung in Israel darin ihre Hauptaufgabe sieht. Die Politik hat keine Alternative. Aber Leben ist mehr als Vertrauen in Politik und Angst vor Despoten vom Schlage eines Putin. Niemand braucht sich das Leben nehmen zu lassen, solange der Vulkan nicht ausgebrochen ist. Das Böse passiert, aber wirkliche Macht über das Leben hat es nicht.

[1] M.L.Kaschnitz, Steht noch dahin, st 57, 1972, S. 7

[2] Belege bei J.Ebach, Apokalpse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Einwürfe 2, Herausgegeben von F.-W.Marquardt u.a. München 1985, S. 5-61. Ebachs Beitrag zur Apokalyptik ist insgesamt äußerst lesenswert. Leider ist der Band längst vergriffen.

[3] Papst Franziskus hatte im Dezember 2017 eine Änderung vorgeschlagen:

[4] A. Shavit, Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels. Deutschsprachige Ausgabe München 2015

[5] a.a.O.S. 569