3. Jan, 2022

„Sie seihen (sieben) Mücken und verschlucken Kamele“ (Jesus) oder „Die Banalität des Blöden“ (Konkret)

Das Christentum wird gegenwärtig eher als harmlose Randerscheinung in der Gesellschaft wahrgenommen, sein Gründer allerdings stand mittendrin in den Auseinandersetzungen seiner Zeit im von den Römern besetzten Israel des 1. Jahrhunderts. Seine Gegner waren Gelehrte, Intellektuelle mit Führungsanspruch, Menschen mit umfangreichem Detailwissen, deren Vorgaben Leitlinien für das Volk waren. Jesus wurde Rabbi genannt, war also selbst ein gelehrter Lehrer und trat ebenso mit dem Anspruch auf, Lebenshilfe für die einfachen „ungelehrten“ Menschen zu bieten. Das Matthäusevangelium sieht ihn als den besseren Lehrer mit der besseren Urteilskraft, weil er die bessere Lebenshilfe zu bieten hatte. Warum? Wir würden heute sagen, weil die Gegner Jesu den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sahen. Wenn der Fokus zu stark auf dem Detail liegt, gerät der Sinn des Ganzen in Gefahr. Wer nicht merkt, dass es um „Recht, Barmherzigkeit und Treue“ (Mt 23, 23) geht, kann sich leicht in den Einzelheiten verlieren und falsche Schlüsse ziehen. In den Streitigkeiten Jesu mit seinen Gegnern ging es um Fragen der Reinheit. Jesus ist ironisch-polemisch: „Die kleinen (unreinen) Mücken fischt ihr aus der Suppe, die großen (unreinen) Kamele verschluckt ihr! (Mt, 23,24). Ihr nehmt es in Kauf, dass die Menschen an eurem „Wissen“ ersticken und ihr mit ihnen. [1]

Der Spruch von den Mücken und Kamelen ist für mich in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, geradezu erkenntnisleitend. Wie kommen wir zu richtigen Urteilen? Gibt es überhaupt richtig und falsch? Zählt in der Demokratie nicht jede Meinung gleichviel? Muss man nicht jedes Detail kennen, um die Dinge richtig beurteilen zu können?

Jesus deckt mit seinem ironisch-provokativen Spruch einen Grundlagenfehler moralischen Urteilens auf. Wer die Basis unseres Zusammenlebens nicht kennt und es nicht grundsätzlich im Blick hat, urteilt falsch. Er nennt „Recht, Barmherzigkeit und Treue“, an anderer Stelle die Nächstenliebe (Mt 5,43) oder auch die „Goldene Regel“ (Mt 7,12). Die grundlegenden Werte können unterschiedlich heißen, aber sie gelten in jedem Fall, weil für alle - Gelehrte und Ungelehrte - der Gott Israels die grundlegende Basis des Zusammenlebens ist. Wenn aber die Grundlagen ins Rutschen geraten, muss gestritten werden, darf das Verkehrte auch polemisch benannt werden.

Unsere Basiswerte heute sind andere. Die neuen BundesministerInnen haben den Gottesbezug der Eidformel zu Recht teils verwendet, teils darauf verzichtet. Dennoch gibt es Grundwerte, die unverhandelbar sind, sollen Zusammenleben und Demokratie gelingen. In der Präambel des Grundgesetzes sind sie für unser Land festgehalten und unveräußerlich dargelegt. Allerdings sind erst recht in Pandemiezeiten die Grundwerte selbst umstritten und der Letztbezug auf Gott bleibt verschlossen, weil er ja nicht von allen geteilt wird. Also müssen die Werte aus sich selbst heraus für so viel Klarheit sorgen, dass sie als plausibel gelten und wir uns auf sie verständigen können.

Nach meiner Beobachtung ist gegenwärtig die Freiheit der am meisten umstrittene Wert. Jeder und jede kann sich darauf berufen, wenn das eigene Interesse gerechtfertigt werden soll. Neulich stand ich an einer Fußgängerampel und wollte gerade bei Grün losgehen, als ein Luxusfabrikat von PKW an mir vorbei donnerte. Mir blieb nur, ihm einen Fluch und ein paar Schimpfwörter hinterher zu rufen, als er in aller Freiheit auch noch die nächste Ampel bei Rot überfuhr. Vermutlich rechtfertigt er sich so: Warum soll ich mich in meiner individuellen Freiheit von Verkehrsregeln einschränken lassen? Warum soll mich denn der Staat bevormunden? Wozu kann ich mir so ein tolles Auto leisten, wenn ich damit nicht fahren kann, wie ich will?

Tatsächlich ist unser Freiheitsverständnis durch diese sogenannte negative Freiheit geprägt. Gegen den absolutistischen Staat wurden durch Aufklärung und Revolutionen bürgerliche Freiheitsrechte erkämpft. Der Staat hat grundsätzlich nicht das Recht, die Freiheit der Individuen zu beschneiden. Der Mensch ist frei, niemand darf über ihn verfügen. Aber schon im Wilden Westen der USA, wo die Freiheit ja erstmals verfassungsrechtlich verbrieft wurde, war klar: Meine Freiheit endet an der Nasenspitze des Anderen! Freiheit kann nur dann gelten, wenn sie für alle gilt. Also muss der Grundwert Gleichheit gleichen Rang mit der Freiheit haben. Und damit die Gleichheit der Freiheit gewährt ist, muss die Solidarität dazu kommen, also die Bereitschaft, dass sich alle an die vereinbarten Regeln halten.

Die Banalität des Blöden in der Überschrift habe ich aus der aktuellen Ausgabe der KONKRET geklaut [2]. Die Formulierung zur Beschreibung der aktuellen Situation ist genial. Sie spielt auf Hannah Arendts „Die Banalität des Bösen“ an, mit der sie den Charakter des Massenmörders Adolf Eichmann anlässlich seines Prozesses in Jerusalem charakterisierte. Der Mann war zu moralischem Handeln nicht fähig, weil er dort eine Leerstelle hatte, wo Menschen normalerweise urteilsfähig sind und moralisch handeln können. Was für ihn galt, galt natürlich auch für die Mehrheit der anderen Nazimörder. Vergleiche mit der Nazizeit sind immer heikel, aber die Vergleichspunkte „banal“ und „blöd“ finde ich bis in die Gegenwart hinein zutreffend. Allerdings wendet ihn die KONKRET im besagten Artikel falsch an. Mit dieser Überschrift wird die Sprache des Koalitionsvertrags der Ampel charakterisiert. Das ist ein viel zu starkes Geschütz gegen zugegebenermaßen schwammige Formulierungen. Assoziationen zu Nazihirnen ist da völlig fehl am Platz, zumal eine der Koalitionsparteien gerade einen wichtigen Schritt aus banalem Liberalitätsgeschwätz heraus macht und Verantwortung übernimmt. Wollte man noch vor vier Jahren nicht in eine Regierung eintreten, um nicht auf populistische Parolen wie „Freie Fahrt für freie Bürger“ verzichten zu müssen, so wird jetzt doch auf Vernunft und Verantwortung gesetzt: Liberal ja, libertär nein. Der neue Finanzminister tritt nun staatstragend auf, Banales und Blödes bedienen Außenseiter in der Partei wie Wolfgang Kubicki: „Die Geimpften wollen sich an den Ungeimpften rächen“. Dieses Geschwätz ist in meinen Augen so ein verschlucktes Kamel. Es mag Hochmut von Menschen geben, die sich in der Pandemie korrekt geben (Mücke), aber das ist kein Grund die Gesundheit von Millionen zu gefährden (Kamel). Unverletzlichkeit der Person ist ein hohes liberales Gut, das Recht auf Gesundheit und Leben einer ganzen Bevölkerung ist ein höheres.

Solange Gott für große Teile der Gesellschaft nicht tot war, gab es eine fundamentale Basis für moralisches Handeln, zumindest konnte sich verantwortliches (leider auch unverantwortliches) Handeln immer auf eine letzte Instanz berufen. Nun aber ist die Säkularisierung fortgeschritten, es muss auch ohne Gott gehen. Glauben kann, wer will (Religionsfreiheit)- richtiges Urteilen und Handeln aber muss eine wissenschaftliche Basis haben. So scheint die vernünftige Verständigung in einer modernen Gesellschaft zu funktionieren, nur tut sie es halt nicht. Was Glaube ist und was Wissen ist, ist keineswegs klar. Der religiöse Fundamentalismus unterscheidet es schon lange nicht mehr. Die Überzeugung heißt: Glaube = Wissen. Die Bibel hat immer recht, auch wenn es um Naturwissenschaft geht. Der Fundamentalismus will den unsichtbaren Gott (Apg 17,23) sichtbar machen und gerät in die Nähe von Götzendienst. In Pandemiezeiten wird dieser Ansatz fatal, wenn Politik und Medizin als Feinde der eigenen Glaubensgewissheit aufgebaut werden.

Aber auch Nichtreligiöse brauchen den Glauben, ob sie wollen oder nicht. Die Wissenschaft hat viel zu sagen, zu viel für das Individuum. Und weil niemand alles wissen kann, muss man darauf vertrauen, dass die Wissenschaft recht hat. Auf etwas vertrauen, ohne dass man es weiß, bedeutet aber nichts anderes als das alte Wort „glauben“. Dieser Glaube in säkularen Zeiten ist aber mindestens so schwer wie die „old time religion“. Gibt es doch nicht nur die Theodizee („Warum kann ein allmächtiger und gütiger Gott das Leid zulassen“), sondern auch so was wie eine „Scientodizee“ [3], also die Frage, warum kann Wissenschaft katastrophale Folgen für Menschen haben. Hier nur ein Beispiel: Als die „friedliche“ Nutzung der Kernenergie mit dem Argument propagiert wurde, dass Unfälle in AKWs nur alle zehntausend Jahre vorkommen werden, wurde zu Recht nach der Kernschmelze in Harrisburg 1979 von Kritikern plakatiert: „Kinder, wie die Zeit vergeht“. Nicht nur gegen Atomwaffen und Atomtechnik ist aber Misstrauen angesagt, in der Moderne muss alles auf den Prüfstand.

Das Dilemma bleibt: Worauf soll man sich dann noch verlassen? Glauben und Wissen lassen sich nicht vereinbaren. Wissen ohne Glauben gibt’s nicht und Glauben ohne Wissen ist etwas, das schon mindestens seit 300 Jahren überholt ist. Die naheliegende und oft praktizierte Lösung heißt: Jeder glaubt halt, was er will, und jeder weiß, was er wissen will. Jeder seiht sich seine Mücke aus der großen Suppe und will vermeiden, was ihn „unrein“, krank, kaputt oder sonst was macht. Dann kann leicht eine nie dagewesene Impfkampagne zur weltumspannenden Genmanipulation werden oder zur Impfdiktatur oder zur infamen Erfindung dunkler Mächte, die die Weltherrschaft erobern wollen. Das ist banal und blöd, aber in unserer komplexen Wirklichkeit schwer vermeidbar.

Ich werde immer mal wieder gefragt, warum es denn in Israel mit der Pandemiebekämpfung so viel besser funktioniert, warum Israel der „Impfweltmeister“ ist. Das ist Israel aber gar nicht, prozentual zur Gesamtbevölkerung sind dort weniger geimpft als in Deutschland. Dennoch ist richtig, Israel hat weniger Ausbrüche, viel weniger schwere Verläufe und prozentual auch weniger Covidtote [4]. Ich denke, es gibt mehrere Faktoren: Israel hat keine offenen Grenzen zu den Nachbarländern, mit Schließung des Flughafens in Lod hat man Ein- und Ausreise schnell unter Kontrolle und so hat man auch gehandelt. Israel hat es geschafft, im Grunde immer vor der Welle zu sein. Der Impfstoff wurde rechtzeitig und ausreichend beschafft und frühzeitig verimpft. Sicher ist auch das warme Wetter bis ins Spätjahr hinein ein Faktor. Als entscheidend aber sehe ich an, dass in Israel ein wissenschaftsorientiertes und wissenschaftsfreundliches Denken vorherrscht. Und Israel ist katastrophenerprobt, schnelles Handeln ist selbstverständlich und ist detailgenau vorbereitet, schließlich beträgt die Vorwarnzeit für Raketenangriffe aus Gaza nur wenige Minuten. Liberalität hat in Israel einen hohen Stellenwert, die Wissenschaften profitieren davon, es ist ja die Start-Up-Nation schlechthin. Am meisten aber zählt das Leben, immer noch werden Gewalt- und Unglücksopfer individuell bekannt und betrauert. Dem Schutz des Lebens ist alles andere untergeordnet. Querdenker, Rassisten, Ideologen, die alles ganz anders sehen, gibt es zwar auch, aber sie haben auf das politische Leben weniger Einfluss, zumal es die neue Regierung wohl schafft, integrativer zu handeln. Das Dilemma von Glauben und Wissen ist in Israel vielleicht präsenter als anderswo, die Gegensätze prallen in diesem Brennpunkt der Moderne vielleicht heftiger aufeinander als anderswo, aber es gibt einen unerschütterlichen Pragmatismus und einen Willen zum (Über-)leben. Und es gibt ein Bewusstsein, dass alles schon mal viel schlechter war, die Banalität des Bösen ist nicht vergessen. Die Mücken in der Suppe überlässt man anderen und die Kamele sind nicht zum Verschlucken, sondern gut für den Tourismus und die Folklore.

[1] Vgl. dazu ausführlich: U. Luz, EKK Das Evangelium nach Matthäus I/3 (18-27), S.329ff.

[2] Konkret 1/2022, S.22f.

[3] Ich habe keine Ahnung, ob es das Wort gibt, im Zweifelsfall habe ich es gerade erfunden.

[4] Hier die aktuelle Entwicklung. Am Ende Links zu älteren Artikeln!