18. Nov, 2021
Wolf Biermann erzählt in seiner spannenden Autobiographie eine schöne Anekdote. Bei seinem Konzert in Jerusalem singt er sein bekanntes Lied „Ich würde am liebsten weg sein und bliebe am liebsten hier.“ Nach dem Konzert kommt eine alte Dame zu ihm und sagt mit deutlichem Berliner Akzent: „Gell, Biermann, das Lied haste für uns Jeckes geschrieben!“
Eine besonders schöne Erinnerung habe ich an den „Jeckes“ Jochanan Valfer, 1922 in Mannheim geboren, mit 16 Jahren 1938 ins damalige Palästina ausgewandert, wohnhaft bis zu seinem Tod 2016 in Haifa. Wir hatten uns 2011 im Schwetzinger Schloss kennengelernt, wohin die Stadt Mannheim und die „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ ehemalige Mannheimer, die von den Nazis verfolgt und vertrieben worden waren, eingeladen hatte. Wir freundeten uns an und stellten fest, dass wir die gleichen Bücher von Israelis und Deutschen lasen: Amos Oz, David Grossman, Meier Shalev, Siegried Lenz, Günter Grass und andere mehr. Immer wenn ich in Israel war, habe ich ihn Haifa besucht. Einmal klingelte es während eines Besuches in seiner Wohnung und er kam freudestrahlend vom Briefkasten zurück. Der Zeitschrift der Jeckes in Israel „Yakinton“, zweisprachig Hebräisch-Deutsch, lag ein Aufkleber für die Heckscheibe seines Autos bei, darauf stand „Ich bin ein Jeckes!“. Lachend erklärte er, dass das den anderen Autofahrern zeigen soll, warum man so vernünftig und nach den Regeln fährt, in Israel ist dieser Fahrstil die Ausnahme. Er erzählte auch viel aus seinem Leben, z.B. wie er noch in Deutschland als Jugendlicher mittels landwirtschaftlicher Praktika auf die sogenannte Jugend-Aliya vorbereitet wurde. Organisiert wurde das von zionistischen Gruppierungen in ganz Europa, auch Hannah Arendt war in ihrem französischen Exil für eine solche Organisation tätig. Jochanan hieß früher Karl-Heinz, sein Leben hat er in Hebräisch und Englisch aufgeschrieben, ich hoffe, man wird es einmal im Mannheimer Marchivum (Stadtarchiv) nachlesen können.
Die Jeckes, deutsche Juden, die großteils schon lange vor Holocaust und Staatsgründung in Palästina/Israel eingewandert sind, sind bis heute im öffentlichen Leben des Landes präsent. Kürzlich hat die Korrespondentin der ARD Susanne Glass ihnen eine hervorragende Doku gewidmet, leider aus wenig erfreulichem Anlass. Das Jeckes-Museum in Tefen/Nordisrael wurde geschlossen, weil es von seinem Gründer Stef Wertheimer aus Altersgründen nicht länger unterstützt werden kann. Nun will die Universität Haifa das Erbe der Jeckes retten und die Exponate an anderer Stelle zugänglich machen.
Zurück zu Biermann. Gegen Ende seiner Autobiographie setzt er sich gründlich mit seiner „Jüdischkajt“ [2] auseinander und erzählt von seiner recht spät entstandenen Beziehung zum Land Israel. Natürlich nimmt er da auch Focus auf den alt-neuen Antisemitismus und erzählt, da es ja anders kaum zu verkraften ist, einen Witz:
Im Wien der Nachkriegszeit sitzt ein Bettler vor dem Stephansdom mit dem Schild „Bitte um eine Spende! Aber von Juden nehme ich nichts!“ Ein jüdischer Tourist kommt vorbei und sagt zu ihm: „Du könntest mal dein Schild auswechseln. Die Zeiten haben sich geändert!“ Darauf der Bettler: „Du Schmock [3] wirst mir nicht erklären, wie ich in Wien zu betteln habe!“
Biermann erzählt vom Antisemitismus, dem sein kommunistischer Vater Dagobert unter den Nazis zum Opfer gefallen ist, aber auch vom Nachkriegsantisemitismus in der DDR und in der BRD nach seiner Ausbürgerung. Eine unendliche Geschichte, die die These von Shulamit Volkov „Antisemitismus als kultureller Code“ bestätigt [4]. Trotz redlicher Bemühungen von Geschichtsschreibung, Feiertagsreden, Bekenntnissen, Demos und Lichterketten hat sich für die Betroffenen nichts oder zu wenig geändert.
Ronen Steinke, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hat in seinem neuen Buch „Terror gegen Juden“ auf ca. 100 Seiten den nachhaltigen Antisemitismus in Deutschland von 1945 bis 2020 eindrucksvoll dokumentiert [5]. In diesem Punkt herrschte Einheit in Deutschland auch zur Zeit der zwei Staaten DDR und BRD. Schändungen von jüdischen Friedhöfen gab es hüben wie drüben. Nach der „Einheit“ hat die Gewalt gegen Personen und jüdische Einrichtungen zugenommen bis hin zum offenen Antisemitismus unserer Tage, der sich in den „sozialen Medien“, aber auch anlässlich von Anti-Israel-Demonstrationen, immer ungenierter zeigt. In seinem neuesten Artikel in der SZ „Antisemitismus, der Deutschland kalt lässt“ [6] zeigt Steinke auch den unzureichenden Umgang der deutschen Strafverfolgungsorgane mit diesen Verbrechen auf. So wurden am 12. Mai diesen Jahres bei Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Gazakrieg vor der Gelsenkirchener Synagoge minutenlang Sprechchöre gerufen wie „Scheiß Juden“, „Scheiß dreckige Juden“ und „Freiheit für Palästina“. Die Polizei war zeitweise nicht in der Lage oder Willens den Mob daran zu hindern. Allerdings, nachdem Innenminister Reul gefragt wurde, ob vielleicht seine Polizei eine kollektive Ohrenarztbehandlung nötig habe, sind die Ermittlungen in die Gänge gekommen. 16 Verdächtige sind mittlerweile erfasst aufgrund von Videomaterial und Zeugenaussagen, Strafverfahren werden vorbereitet. Man kann also, wenn man will. Die Parole “Bombardiert Tel Aviv“ wurde z.B. in Augsburg im Vorfeld einer Demo verhindert, in Mannheim gelang es nicht eine Demo mit ähnlichen Sprüchen zu verhindern, allerdings konnte man sie, aus früheren Erfahrungen klüger geworden, von der Synagoge fern halten.
Die Zeiten werden nicht besser, aber man kann etwas dafür tun, dass sie besser werden. Solche Paradoxien durchziehen die Lieder von Wolf Biermann und sind für mich eine „Ermutigung“, sich nicht verhärten zu lassen. Damit hat es der alte Atheist sogar in kirchliche Gesangbücher geschafft. „Verdrehte Welt- das seh' ich gern!“, sang er schon 1984 - einen Grund zur Resignation gibt es nicht. Und damit noch ein kleiner Verweis auf die „verdrehte Welt“ in Israel: Tatsächlich hat es die wackelige 8-er-Koalition geschafft den Haushalt für 2021 und 2022 durchzubringen und bleibt im Amt.
Bessere Zeiten als zur Zeit Netanjahus sind machbar. Demnächst mehr darüber hier an dieser Stelle.
[1] “Man nannte sie „Jeckes“. Noch abrufbar in der ARD-Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzNlODVkMGRhLWRjMzUtNDZlMC05MDk2LWNjNzQxMzA1ZDRhMg/
[2] Jetzt auch sehr schön und aktuell in seinem neuesten Buch „Mensch Gott!“, erschienen anlässlich seines 85. Geburtstages und dem 45. Jahrestages seiner Ausbürgerung aus der DDR. Insbesondere im letzten Kapitel „Meine Jüdischkajten“, S.167 ff.
W.Biermann, Mensch Gott!, Berlin 2021
[3] Sehr vulgärer jiddischer Ausdruck für „Trottel“. Genaueres bei:
L.Rosten, Jiddisch. Eine Enzyklopädie. München 2008, 4.Auflage, S. 534ff.
[4] S.Volkov, Antisemitsmus als kultureller Code.Zehn Essays. München 1990, 2.Aufl., insbesondere S.13ff
Günstig auch als Sonderausgabe der „Bundeszentrale für politische Bildung“ Bonn 2021
[5] R.Steinke, Terror gegen Juden. Geschichte und Gegenwart antisemitischer Gewalt. München 2020.
https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/337343/terror-gegen-juden
[6] SZ 16. November 2021, S. 5