28. März, 2021
Die vierten Wahlen innerhalb von zwei Jahren in Israel sind vorbei und das Stichwort, das in allen Analysen auffällt ist die Polarisation. Zwei Lager stehen sich gegenüber: Pro-Netanjahu und Anti-Netanjahu, genauer gesagt, handelt es sich um eine Patt-Situation, in der bisher noch kein Lager die Mehrheit hat und möglicherweise auch in den nächsten Wochen nicht bekommen wird. Das würde die 5. Wahl innerhalb von zwei Jahren bedeuten.
Die Süddeutsche Zeitung kommentiert das Wahlergebnis mit der Überschrift: „Wie es ihm gefällt“ [1] mit dem Tenor, der allmächtige „König Bibi“ habe das Land fest im Griff und er lasse wählen, solange es ihm gefällt und bis es ihm passt. Das ist die Art von journalistischem Kommentar, die das Bild eines Landes in den Köpfen der Leser bestätigt, keinen Schritt weiter führt und bei genauerem Hinsehen auch falsch ist. Denn „Bibi“ kann das Wahlergebnis ganz und gar nicht gefallen, hat er doch im Vergleich zu den letzten Wahlen mit seinem Likud sechs Sitze verloren und vor allem sind seine Gegner gegenüber den Umfragen nicht eingebrochen, sondern haben, wenn auch auf niedrigem Niveau, Erfolge erzielt.
Im Moment gibt es ein interessantes „Zwischenlager“ gegenüber „Pro und Contra -Netanjahu“, bestehend aus der Partei Yamina (7 Sitze) mit Naftali Bennett an der Spitze und dem Newcomer Raam (4 Sitze) mit dem Leader Mansour Abbas. Bennett hat sich noch nicht klar geäußert, ein Beitritt zum Netanjahu- Lager gilt aber als gut möglich. Bennett ist kein Freund von Netanjahu, würde aber mit seinen rechten Positionen gut in das Lager passen. Allerdings kommt Netanjahu auch mit seinen 7 Sitzen nur auf insgesamt 59 Mandate in der Knesset, die Mehrheit sind 61 Sitze. Wird Mansour Abbas abhelfen? Seine Partei Raam ist aus der Vereinigten Liste der arabischen Parteien ausgeschieden und hat religiös-islamistische Tendenzen. Allerdings gilt er als sehr pragmatisch und könnte sich mit dem nicht weniger pragmatischen Netanjahu arrangieren. Da könnte dann auch großzügig über frühere anti-arabische und rassistische Äußerungen Netanjahus hinweggesehen werden.
Die übrigen arabischen Parteien der Vereinigten Liste, die etwa die Hälfte ihrer Mandate verloren hat, neigen zum Anti-Netanjahu-Lager.
Summa Summarum kommt dieses Lager auf 57 Sitze und hätte mit Raam eine Mehrheit. Aber die Aufzählung der möglichen Partner zeigt schon, dass die israelische Gesellschaft nicht nur stark polarisiert, sondern auch sehr fragmentiert ist. Diese vielen Partikularinteressen sind schwer unter einen Hut zu bringen und das gilt selbstverständlich auch für das Netanjahu-Lager.
Traditionell ist der Likud mit den religiösen Parteien verbündet:
Hier ergibt die Summe 52 Sitze, mit Yamina wären es 59, + 4 von Raam 61. Netanjahu würde möglicherweise sogar diesen Spagat von islamistisch zu rechtsradikal-zionistisch hinkriegen. Allerdings hat inzwischen der „Religiöse Zionismus“ erklärt, auf keinen Fall ein Bündnis mit arabischen Parteien eingehen zu wollen.
Soviel zur Wahl und zur Auszählung. Aber was bedeutet das alles? Kommentatoren in Israel, die mit Bibi nichts am Hut haben, sehen die Lage weit differenzierter als der linksliberale Mainstream hierzulande. Sowohl Tom Segev vor der Wahl als auch David Witzthum nach der Wahl [2] verweisen auf die Stärke Netanjahus und sehen seine Beliebtheit durchaus als begründet an. Wonach wir uns hier inmitten der 3. Corona-Welle sehnen, hat er in Israel geschafft. Die Bevölkerung ist weitgehend geimpft und mit dem „Grünen Pass“ kann das normale Leben langsam aber stetig wieder aufgenommen werden. Es mag ein „Geschmäckle“ haben, dass er mit dem Chef von Pfizer telefoniert und ausreichend Impfdosen zu einem angemessenen Preis bestellt hat und Pfizer von den anonymisierten Daten der Geimpften profitiert, aber es hat zum Wohl der Menschen funktioniert. Zudem hat Israel dank der sozialdemokratischen Ära ein gut funktionierendes Gesundheitssystem und Netanjahu weiß es zu nutzen.
Im israelisch- palästinensischen Konflikt gibt es zwar keine Fortschritte, aber die Leute haben andere Sorgen. Besonders auch der arabische Bevölkerungsanteil: Hauptsorge bereitet die zunehmende Gewalt innerhalb der eigenen Community, die wohl kaum ihre Ursache in staatlichem Handeln hat, sondern eher Ausdruck zunehmender Aktivitäten von Familienclans ist, denen die arabische Institutionen vor Ort nicht genügend Herr werden können. So paradox es klingt, aber gerade aufgrund dieser Probleme scheint die arabische Minderheit, immerhin ca. 1/6 der Bevölkerung, in der Realität angekommen zu sein. Realpolitik und Bündnisse werden möglich, nicht nur mit dem Anti- Netanjahu-Lager.
Auch steht Netanjahu nicht am rechten Rand des politischen Spektrums. David Witzthum hat in dem Interview der „Zentrale für politsche Bildung“ darauf hingewiesen, dass Bibi mal so ähnlich wie Franz-Josef Strauss gedacht hat: „Rechts von der CSU bzw. Likud darf es nur die Wand geben!“[3] Aber diese Zeiten sind mit AfD in Deutschland und den oben erwähnten Gruppierungen in Israel längst vorbei. Netanjahu ist gewiss ein populistischer Politiker, der wenig Skrupel hat, wenn es um seine Macht und Karriere geht. Aber er ist kein politischer Totalausfall wie Trump, der nicht weiß, was er tut. Und entgegen manchen Unkenrufen spezieller Israelkritiker hat er Israel nicht in eine totalitäre Gesellschaft verwandelt. Der Oberste Gerichtshof bleibt auch weiterhin für die Korruptionsvorwürfe gegen ihn verantwortlich und er muss sich seinem Prozess stellen, ob er will oder nicht. Entgegen den Forderungen der Rechtsaußen und seiner eigenen Rhetorik hat er auch keinen Quadratmeter palästinensischen Landes annektiert und hält, wenn auch auf seine eigenwillige Art, Optionen für Verhandlungslösungen offen. Seine Wähler danken ihm seinen Pragmatismus und seine Erfolge.
Dennoch ändert das nichts an der Polarisierung des Landes. Netanjahu hat gewonnen und verloren! Gelingt ihm eine Regierungsbildung nicht- er baggert wohl gewaltig an den Abgeordneten des abtrünnigen Gideon Saar- könnte das Wahlergebnis das Aus von Bibi bedeuten und eine Gefängnisstrafe wäre so unwahrscheinlich nicht. Das Anti-Lager könnte ein Gesetz in die Knesset einbringen und mehrheitlich verabschieden, dass ein Angeklagter nicht Premierminister sein kann. Dann müsste er sein Amt aufgeben und die Gerechtigkeit könnte ihren Lauf nehmen. Außerdem ist der verabredete Wechsel im Amt des Premierministers mit Benny Gantz nicht ganz vom Tisch. Sollte es keine Neuwahl in diesem Jahr geben, würde Gantz im November vereinbarungsgemäß Regierungschef werden. Allerdings ist dies eher unwahrscheinlich und die meisten politischen Beobachter halten eine 5.Wahl innerhalb von zwei Jahren für das wahrscheinlichste.
Meine alte These ist ja: Früher oder später treten auch bei uns in Deutschland ähnliche Verhältnisse ein wie in Israel. Neben der Polarisierung (Corona!) werden auch wir eine zunehmende Fragmentierung von Gesellschaft und Politik erleben! Die SPD kann schon längst ein Lied davon singen, der CDU wird es nach dem Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel nicht anders ergehen und auch die GRÜNEN bekommen Druck von unten und der Jugend und werden sich trotz der satten Umfragewerte nicht in Sicherheit wiegen können. Weitere „Identitäten“ sind auf dem Vormarsch und werden die Lage noch unübersichtlicher machen. Wie in Israel so auch hier und vermutlich weltweit.
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[1] SZ vom 25.3. 2021, S.4 A.Föderl-Schmid, Wie es ihm gefällt
[2] „Die Linke bietet keine Alternative“. Ein Gespräch mit dem Historiker Tom Segev, DIE ZEIT, 18.März 2021, S.8. Und David Witzthum auf: https://www.bpb.de/veranstaltungen/format/podium-vortrag/328613/israel-waehlt
[3] Äußerung während des Interviews siehe [2]