Unterwegs: Ich war dann mal weg!

Hier findet Ihr meine Texte, Berichte, Erlebnisse, Reflektionen, Polemiken, die während meiner Israel-Reise vom 08.10.-16.12.2019 entstanden sind.

12. WIEDER ZURÜCK ODER WEIHNUKKA

Minister und Agrarier,
Bourgois und Proletarier,
es feiert jeder Arier
zur gleichen Zeit und überall
die Christgeburt im Rindviehstall.
Allein, das Volk, dem es geschah,
das feiert lieber Channukka.

Erich Mühsam


Also wäre die Konsequenz: Soll doch jeder sein Ding machen und die Anderen in Ruhe lassen. Geht aber nicht. Kulturen mischen sich, beeinflussen sich gegenseitig, fordern einander heraus. Soviel ich weiß, ist das Wortspiel „Weihnukka“ im liberalen deutschen Judentum anfangs des 20. Jahrhunderts aufgekommen. Die jüdischen Kinder wollten auch beschenkt werden wie die christlichen, der Lichterzauber von Weihnachten hat auch auf die Erwachsenen gewirkt und so wurde der ein oder andere Kompromiss und Mix gefunden [1]. Religionen und Kulturen begegnen sich und beeinflussen sich gegenseitig - so war es schon immer. Das einzig Wahre zu glauben oder zu wissen, war schon immer Illusion. [2]

Eines meiner Lieblingsgedichte, weil es so schön provoziert. Weihnachten hat für unsere Kultur eine gewaltige Bedeutung, wie wir es dieser Tage wie alle Jahre wieder gespürt haben. Oder eben doch nicht, man kann sich Weihnachten auch verweigern. In Israel sowieso bzw. verweigern braucht man sich erst gar nicht, weil Weihnachten für die meisten Menschen dort schlicht nicht vorkommt.

9. WAS IST NORMAL?

Mea Schearim bei Nacht

Mea Schearim bei Nacht

Die deutschen Freunde wollten am letzten Tag unbedingt noch nach Mea Schearim, das ultraorthodoxe Wohnviertel.
Also haben wir einen Spaziergang vom Damaskustor aus dorthin gemacht.
Die Reaktionen waren Staunen, Kopfschütteln, Fragen über Fragen:
Wie kann man nur so leben? Warum diese Kleidung? Wovon leben die Leute hier eigentlich? Warum so viel Müll und Verwahrlosung?

Meine Antwort: Das ist für sie normal!

Entscheidend ist Thora lernen, alles andere wird dem untergeordnet.

Die Fragen verschärften sich zwei Stunden später im Restaurant, keinen Kilometer davon entfernt. Bedienungen im schulterfreien Top, von koscher keine Spur, alles da, was das moderne Herz begehrt. Alles wieder normal für uns, so sind wir es gewohnt.
Kontraste, Widersprüche, Paradoxes - das ist Israel auf Schritt und Tritt.
Schon landschaftlich: Totes Meer - See Genezaret, Wüste - daneben endlose Dattelplantagen, wilde Berglandschaften um Jerusalem - topfebene Küstenlandschaft südlich und nördlich von Tel Aviv. Kontraste im Wechsel nach nur wenigen Kilometern.

Bleiben wir beim Politischen.

Das Bild von der Soldatin sagt alles: Wir wollen frei sein und wir sind bereit, dafür zu kämpfen! Schönes und Hässliches liegen unmittelbar nebeneinander. Das ist für uns normale Realität. Der letzte Gaza-Konflikt liegt hinter uns, der nächste vor uns, vielleicht ist der nächste Einsatz aber auch an der libanesischen oder syrischen Grenze oder irgendwo in den besetzten Gebieten.
Die Politik hier ist ehrlich, Illusionen kann man sich nicht erlauben. Entsprechend gibt es eine freie Presse, welche die Vielfalt der Eigenwilligkeiten, mit dieser Situation umzugehen, spiegelt. Ich kann nur die englischsprachigen Zeitungen lesen, Jerusalem Post (konservativ) und Haaretz (linksliberal), um für mich "Normalität" in diese Widersprüchlichkeiten rein zu bringen.

Soldatin nach Feierabend

Soldatin nach Feierabend

Haaretz 24.11.2019

Haaretz 24.11.2019

Als Beispiel wieder mal die Gaza-Krise vor zwei Wochen. Kein Mensch bestreitet hier, dass der massive Militäreinsatz der Armee (IDF) legitim war. Ausnahmen bestätigen wieder mal die Regel (Neturei Karta und andere Antizionisten). Allerdings legt Haaretz zu recht die Finger in die Wunden dieses Einsatzes. Bei einem Luftangriff sind 9 Mitglieder ein und derselben Familie getötet worden. Die Nachbarn sagen, das waren einfache, arme Leute, die nichts mit dem Djihad zu tun hatten. Sie seien einer Verwechslung zum Opfer gefallen, weil ein Anführer des PIC genau so heißt. Haaretz glaubt dieser Darstellung. Die Armee sagt, sie wolle den Vorfall untersuchen, schweigt aber darüber in der Öffentlichkeit und erwähnt ihn in ihrem Erfolgsbericht über den gesamten Einsatz nicht. Auch die Jerusalem Post schreibt nicht darüber. Jedenfalls habe ich nichts davon gelesen.

Für mich zeigt dieser Vorgang: Israel ist unter diesen Umständen eine bemerkenswert offene Gesellschaft. Die Pressefreiheit ("4.Gewalt") funktioniert. Genauso das Rechtswesen, obwohl es derzeit sehr unter Netanjahus Regentschaft zu leiden hat. King Bibi ist jetzt schon eine Katastrophe für das Land. Ein typischer Egoshooter, wie ich meine. Er erpresst Israel mit seinem eigenen politischen Schicksal. Jeder Demokrat würde in dieser Situation zurücktreten, aber er ist keiner, sondern einer von den inzwischen weltweit aufgestiegenen Populisten, die die Demokratie als Aufstieg zur Macht missbrauchen (auf das parallele Trauerspiel um Netanjahus Freund Trump will ich hier nicht eingehen, ist aber meiner Meinung nach das gleiche in grün, äh schwarz). Netanjahu hat die Unterstützung der Mehrheit hier längst verloren, das war schon nach den letzten beiden Wahlen klar. Aber er hat immer noch eine starke Klientel, die ihn unterstützt und mit deren Hilfe er sich mit allerlei Tricks im Sattel hält. Und das ist für mich das Besorgniserregende in diesem Land und nicht nur hier. Die Egoshooter und skrupellose Machtmenschen hat es schon immer gegeben. Das Schlimme ist, dass sie jetzt auch noch gewählt werden. Früher war ein Machthaber ein Despot "von Gottes Gnaden", heute werden King Bibi, Donald, Orban, Erdogan, Putin und Konsorten vom Volk gewählt. Die Verdummung von heute lässt sich vielleicht in dem Satz zusammen fassen: Wir wählen diese Leute, weil wenn wir könnten, würden wir es genauso machen!

Jerusalem, 26. November 2019

8. GAZA-KRISE

Trotz des Waffenstillstandes gingen gestern die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen weiter, Israel schlug in der Nacht entsprechend heftig auf Stellungen des Islamischen Djihad zurück. Inzwischen wurden ca. 400 Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert, ca. 90% wurden vom Iron Dome abgefangen, es gab ungefähr 50 Verletzte in Israel. Im Gazastreifen kamen nach bisheriger Darstellung 32 Menschen ums Leben, zumeist Kämpfer des Islamischen Djihad (PIJ), darunter aber auch mindestens drei Kinder. Außerdem ist eine große Anzahl von Verletzten zu beklagen. Soweit einige Zahlen, hinter denen sich sehr viel menschliches Leid verbirgt.

Eine andere Frage ist, wie es zu dieser Situation kam. In den deutschen Medien wurde, soweit ich sehe, nur einen Tag lang berichtet. Auch waren die Analysen teils vordergründig, teils recht spekulativ auf die innenpolitische Situation um Netanjahu bezogen.
Ich will hier nur ein paar Beobachtungen wiedergeben, die meiner Meinung nach für die Entstehung der jetzigen Situation eine Rolle spielen.

Jerusalem Post 15.11.2019

Jerusalem Post 15.11.2019

Auslöser der Krise war nicht die gezielte Tötung von Baha Abu al-Ata und seiner Frau vor vier Tagen, sondern das Erstarken des Islamischen Djihads in den vergangenen Monaten. Schon Anfang November gab es immer wieder Raketenangriffe aus Gaza, für die der PIJ verantwortlich gemacht wurde und der sich auch dazu bekannte. Über Israels Antwort über die üblichen Gegenangriffe hinaus wurde in den Medien hier öfter spekuliert. Der Druck kam aber insbesondere von der Bevölkerung, die in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen lebt und von den stetigen Sirenenalarmen entnervt ist. Es müssen ja dann in Sekundenschnelle die Schutzräume aufgesucht werden, insbesondere für Kindergärten und Schulen sind das unerträgliche Verhältnisse. Deswegen gab es übrigens schon letztes Jahr einen Marsch der Grenzbewohner nach Jerusalem zum Regierungssitz, um eine nachhaltige Beendigung dieser Lage zu fordern. Anfang der Woche hat sich die Regierung mit dem neuen rechten Verteidigungsminister Bennett zur Ausschaltung des Anführers des PIJ entschlossen.
Neu an der Situation war auch, dass Israel nicht die Hamas für die Angriffe verantwortlich machte und deren Stellungen angriff, sondern ausschließlich auf den PIJ zielte. Außer verbalen Attacken gegen Israel hielt sich die Hamas (bisher) auffallend zurück. Vermutlich ist ihr die Schwächung des PIJ gerade recht. Dazu muss man wissen, dass der PIJ vom Iran unterstützt wird, die sunnitische Hamas aber ideologisch nicht mit dem schiitischen Regime in Teheran auf einer Wellenlänge ist. Zudem besteht momentan für die Hamas in Gaza die Gefahr, den Rückhalt der Bevölkerung zu verlieren, weil die Entwicklung unter ihrer Führung zu immer mehr Elend zugenommen hat. So ist der PIJ zu einem starken politischen Konkurrenten der Hamas geworden. Desweiteren hat die Hamas mit Israel ein stillschweigendes Abkommen: Katar darf monatlich höhere Millionenbeträge über die israelische Grenze (bar in Koffern!) liefern, um die größten Lücken bei Versorgung und Gehältern auszugleichen. Es scheint offensichtlich, dass die Hamas auf diese Gelder nicht verzichten will und darum still hält.

Wie immer muss man bei solchen Geschichten auch die regionale "Großwetterlage" beachten. Israels stärkster Feind ist der Iran, der ja ständig seine Vernichtungsrhetorik gegenüber dem "zionistischen Gebilde" zelebriert. Gerade hat der Iran aber außer Trump noch ein paar weitere Probleme an der Backe. Im Libanon droht ein Bürgerkrieg, die Leute gehen auf die Straße, weil das Land völlig heruntergewirtschaftet ist. Dafür wird auch die Hisbollah verantwortlich gemacht, Irans Waffenbruder, der erst seit einiger Zeit an der Regierung beteiligt ist.
Noch schlimmer geht es im Irak zu, da haben Unruhen in den letzten Wochen ca. 400 Todesopfer gefordert. Mitverantwortlich ist auch dort die schiitische Regierung, die mit dem Iran liiert ist. Was hat das alles mit Gaza zu tun? Die "Jerusalem Post" sah schon Anfang November hier einen Zusammenhang zu Gaza: der Islamische Djihad sollte quasi auf Befehl vom Iran eine neue Front eröffnen, um von den Problemen im Irak und im Libanon abzulenken. Was ja auch gelungen ist. Wer interessiert sich schon (in Deutschland, in der EU...) für den Libanon und den Irak, wenn es im Gazastreifen brennt? Für mich ist damit nicht alles erklärt, aber einiges. Die Spekulation, dass es das letzte Gefecht Netanjahus sein könnte, ist auch nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber doch eher ein sekundärer Aspekt.

Hier in Jerusalem spüre ich wie gesagt wenig von alldem. Solange man nicht selbst betroffen ist, ist es egal. Die werden schon machen...

Jerusalem, 15. November 2019

7. BISSL WAS PSYCHO-SOZIO-RELIGIÖSES

Neil Armstrong, der erste Mensch auf dem Mond, soll bei einem Besuch des Archäologischen Parks am Tempelberg gesagt haben: "Für mich ist das ein größerer Moment als der erste Schritt auf dem Mond!". Denn er stand auf einer Treppe aus der Zeit des 2.Tempels, auf der vermutlich auch Jesus gegangen war.

Für Pilger aller Zeiten sind die Besuche im "Heiligen Land" für die eigene Identität bedeutsam. Glaube und Realität begegnen sich hier. Religion bleibt nichts Abgehobenes, Spirituelles, sondern wird geerdet.

Und damit natürlich auch in alle Widersprüchlichkeiten des Irdischen verwickelt. Damit kommen nicht alle klar. Daher gibt es in einem Jerusalemer Krankenhaus eine Spezialabteilung für das "Jerusalem-Syndrom", für Menschen, die eine spezielle Neurose entwickelt haben. Meist äußert sie sich darin, dass im Bewusstsein die Zeiten verschmelzen und man sich für eine biblische Person hält. Die Könige David und Salomo, einer der Propheten Jesaja oder Jeremia, auch Jesus, können Gegenstand der Projektion sein.
Dieser hier neben mir leidet nicht drunter, auch wenn man in der Kneipe am Nebentisch schon mal was von "Jesus" munkeln hört.

Treppe aus der Zeit des 2.Tempels

Treppe aus der Zeit des 2.Tempels

Auf ein Bier mit

Auf ein Bier mit "Jesus"

Anders verhält es sich wohl bei dieser Dame in Weiß, gesehen auf dem Ausgrabungsgelände in Shilo, wo der biblische Prophet Samuel wirkte. Zwar passt Winnetous Schwester in ihrer Begleitung nicht so recht dazu, aber ein Text auf ihrem schönen, weißen Kleid ist eindeutig: "Wenn ich doch wenigstens Rebekkas Kamel sein könnte!". Rebekka ist eine der Ahnfrauen Israels, die mit etlichen Kamelen als Mitgift mit Isaak verheiratet worden ist.

Dame in Weiß mit eventuellem

Dame in Weiß mit eventuellem "Jerusalem-Syndrom"

Natürlich frage ich mich auch gelegentlich, was ich denn unter all den "Irren von Zion" hier suche. Antwort steht noch aus.

Auf der Rückfahrt von Shilo hatten Sam und ich Gelegenheit, ein bisschen die Bevölkerungsstruktur im Jerusalemer Norden zu studieren.
Im Bus war etwa die Hälfte ultra-orthodox gekleidet, an manchen Haltestellen standen gewiss 100% Schwarzgekleidete. Schwer vorstellbar, wie Israel existieren soll, sollten sie mal in der Mehrheit sein. Ihre Geburtenrate liegt deutlich höher als die der übrigen Bevölkerung. Sie genießen noch zahlreiche Privilegien aus Zeiten Ben Gurions, der sich gewaltig geirrt hat, als er meinte, das Problem wächst sich mit zunehmender Säkularisierung aus. Beeindruckt haben mich in diesem Zusammenhang die beiden Bücher von Deborah Feldman, die ihre Emanzipation von der Satmarer-Gemeinschaft in New York beschreibt. Für sie war es lebenswichtig sich als junge, kreative Frau aus der Enge ihrer Herkunft zu befreien. Aber sie schreibt immer mit großer Liebe und Respekt von ihrer Großmutter, für die es als Überlebende der Shoah gar keine andere Möglichkeit gab, als in der Sicherheit dieser Gemeinschaft zu leben, auch im religiösen Weltbild, das von der Überzeugung geprägt ist, nach Hitler kann es nur noch die konsequente Einhaltung der Gebote geben. Aber New York ist nicht Israel. Eine ultraorthodoxe Minderheit ist kein Problem für eine Gesellschaft, aber wie sieht es aus, wenn sie zur Mehrheit wird?

Jerusalem, 09. November 2019

Kotel (Klagemauer)

6. RELIGIÖSE GERÄUSCHE IN JERUSALEM

Bekannt ist Theodor Herzl´s Spruch: "Wer in diesem Land nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist." Ich würde hinzufügen: Wer in Jerusalem lebt, kann kein Atheist sein. Religion ist allgegenwärtig, mitunter fühlt man sich davon regelrecht zugeballert, andererseits ist sie die Realität, in der sich sehr viele Menschen hier bewegen. Im folgenden kann nur ein kleiner Ausschnitt geboten werden von dem, was man halt als Touri so mitkriegt. Ein bisschen "Augen und Ohren auf!" gehört natürlich schon dazu.

Man redet ja gerne von "dem" Judentum, "dem" Christentum, "dem" Islam, was natürlich Quatsch ist. Was es gibt, sind allenfalls "Christentümer, Judentümer,...". Einigermaßen homogen zeigt sich für mich hier nur der islamische Glaube. Und zwar 5 mal am Tag; wobei ich inzwischen morgens um fünf beruhigt weiterschlafe, wenn der Muezzin mir sein "Allahu Akbar" ein paar Mal ins Ohr ruft. Gerade kommen jetzt am Nachmittag die Rufe der Muezzin aus dem Osten von Jericho her näher und jetzt ist auch mein Nachbar dran:

Mein Nachbar, der Muezzin

Die Christen sind hier meist an den schönsten Plätzen, häufig auf den Bergspitzen, mit riesigen Grundstücken präsent. Das liegt einerseits an den Erinnerungsorten der Tradition (Ölberg, Gethsemane, Bethanien, Berg der Seligpreisungen,...) andererseits an der politischen Lage im 19. Jahrhundert. Damals setzte ein regelrechter Boom auf das "Heilige Land" ein: die christlichen Nationen wollten hier unbedingt prominent vertreten sein. Das Land war günstig zu bekommen, da es unter der Herrschaft der Osmanen ziemlich heruntergewirtschaftet war. "Der kranke Mann am Bosporus" wie wir es in den Schulen gelernt haben, hatte das, was wir heute Devisen nennen, dringend nötig. Ein schönes Beispiel ist die russische Himmelfahrtskirche, die heute von Nonnen unterhalten wird. Im Clip bewegen wir uns gerade auf sie zu, als zur Liturgie geläutet wird:

russische Himmelfahrtskirche

Die evangelischen Preußen waren mit die ersten Europäer im Land. Schon 1854 hatte man in einem einmaligen Experiment mit den Anglikanern ein gemeinsames Bistum gegründet, das später auch auf Grund politischer Interessen zerbrach. Außerdem war Wilhelm II. einer der besten Verbündeten des Sultans, so dass es zum Ende des 19. Jahrhunderts zu den spektakulären Kirchengründungen kam: der Erlöserkirche nahe am Grab Jesu, der Auguste Victoria Kirche auf dem Ölberg und der katholischen Dormitio-Abtei auf dem heutigen Zions Berg. Groß gefeiert wird in der Erlöserkirche der Reformationstag, der zugleich der Tag der Einweihung (1898) ist. Hier der Auszug nach dem diesjährigen Gottesdienst mit dem arabisch-lutherischen Bischof an der Spitze:

Reformationstag in der Erlöserkirche

Über Jüdisches hatten wir es ja schon anlässlich der Feiertage. Hier nur noch zwei gegensätzliche Beispiele vom Kotel (Klagemauer) und von einem charismatischen Sabbat-Begrüßungsgottesdienst (Kabbalat Shabat):

Sabbat-Begrüßungsgottesdienst

So viel für heute. Wieder mal auch ein bissel was Pädagogisches. Sylvie meint, ich übertreibe es. Aber ich hab´ halt was gegen Klischees.

Jerusalem, 06. November 2019

Nach 10 Wochen Israel versuche ich mich ein bisschen zu sortieren. Ich wollte Weihnachten wieder zuhause sein, aber irgendwie ist Weihnachten für mich dieses Jahr ausgefallen. Channukka war mir näher und es war schön, das Anzünden des ersten Lichts in der Mannheimer Synagoge miterleben zu dürfen. Das ist ein einfaches, klares Symbol, verbunden mit einer klaren Geschichte, der Wiedereinweihung des Tempels nach der Schändung durch den Seleukidenkönig Antiochos. Weihnachten dagegen wirkte auf mich dieses Jahr zumindest völlig diffus. Wer weiß denn noch, was da eigentlich gefeiert wird?

„Jerusalem Tel Aviv- zwei Städte, eine Reise “- Israelreisen werden von der Tourismusindustrie attraktiv und heftig beworben. Und so ist es! Auf einer Reise kann man nicht nur zwei Städte, sondern zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten erleben. Aber, was heißt zwei? In jeder Stadt gibt es zahlreiche Lebenswelten, die nebeneinander existieren, sich vermischen und sich immer weiter verändern. Im religiösen Jerusalem sind die Gemeinschaften noch eher für sich, leben parallel nebeneinander her. Manchmal drängte sich mir das Bild von der Blase richtig auf. In Tel Aviv dagegen wirbelt und quirlt alles durcheinander, die Menschen sind offen und suchen ständig nach etwas Neuem. So hat es zumindest auf mich gewirkt.

Ich hatte schon bei früheren Reisen irgendwie das Gefühl, dass in Israel die Entwicklung schneller geht als bei uns. Was in Israel angesagt ist, kommt mit einer Verzögerung von 5 bis 10 Jahren auch bei uns an. Negativbeispiel ist die Allgegenwart der Terrorgefahr. Daran war natürlich nach landläufiger Meinung hierzulande Israel selber „schuld“. Heute müssen z.B. die Weihnachtsmärkte bei uns stark gesichert werden, niemand kann Terroranschläge im Alltag, an exponierten Stellen ausschließen. Natürlich sind wir jetzt nicht selber „schuld“, die Bösen sind immer die anderen.

Positiv: die Innovationsfähigkeiten in Israel. So viel ich weiß, gibt es nicht nur relativ die meisten Start-Up-Unternehmen in diesem kleinen Land, sondern sogar absolut weltweit. Gott sei Dank haben die Tel Aviver Freunde mich alten Kulturbanausen immer wieder in Museen mitgeschleppt. Und sowohl im Design-Museum in Holon, als auch im Kunstmuseum Tel Aviv war für mich ganz auffällig die Ausrichtung auf die Zukunft. Intelligente Wege werden kreiert und es wird gezeigt, wie man die Menschheitsprobleme angehen kann bei Wohnen, Verkehr, Energieverbrauch usw. Apokalyptischen Untergangsszenarien werden dort Handlungsbereitschaft und -fähigkeit entgegengesetzt. Und ich bin optimistisch, dass sich dieser Trend auch bei uns durchsetzt. Paar Jahre langsamer sind wir halt…

Gut, mir ist schon bewusst, dass diese ganze Reise für mich ein großes Privileg war. Wer viel unterwegs ist, sieht halt auch mehr. Das wäre in Indien, Chile oder den Niederlanden nicht anders gewesen. Trotzdem ist natürlich (nicht nur) für mich Israel unvergleichlich. Vieles habe ich nicht verstanden und werde es nie verstehen. Aber bei einigen Themen will ich noch ein bisschen vorankommen und Reiseerfahrungen und Grundsätzliches zusammenbringen. Das sind Themen wie „Christlich-jüdischer Dialog“, „Gesellschaftlicher Wandel in Israel und Palästina“, „Der israelisch-palästinensische Konflikt“, „Archäologie und Bibel“. Darum habe ich einen Blog 2 im Auge. Dann gibt es auch noch mal andere Bilder, die ich mit der Kamera aufgenommen habe, bisher kam alles von der Handykamera. Sylvie will mir wieder helfen. Darum steht am Schluss ein ganz großes Dankeschön! Sie hat das Layout gemacht, die Bilder sortiert und hochgeladen und mich korrigiert.

Mannheim, 31. Dezember 2019

[1] Schalom Ben-Chorin, Jugend an der Isar, München 1974, S.15ff. (Mensch, ist das gut, wenn man wieder seine Bücher zur Verfügung hat und nachgucken kann!)

[2] M.Hilton, „Wie es sich christelt, so jüdelt es sich“, Berlin 2000

11. TEL AVIV - DAS BESTE ZUM SCHLUSS

Bin kurz vor Anbruch des Schabbats an den Tatort zurückgekehrt. Was war geschehen?

Nach einer ausgiebigen Tour nach Sarona habe ich mich zu einem Feierabendbier im "Side Walk" niedergelassen. Das Lokal war mir auf dem Hinweg aufgefallen. Aus dem einen Bier wurde ein zweites. Hinter meinem Rücken verzehrte ein Herr sein Abendessen, so saßen wir fast eine Stunde da. Schließlich orderte ich doch die "Bill", wie es hier heißt, zahlte, stand auf, wandte mich zum Gehen, da fiel mein Blick erstmals auf diesen Herrn vormals im Rücken. Ich guck noch mal, jetzt guckt er auch und etwa zeitgleich sagten wir: "Nee!".

Es war Helmut Lenz aus Eberbach, der im Land einige Bio-Zertifizierungen vorgenommen hatte.
Klar, dass noch das eine oder andere Bier hinzu kam, bis die Details geklärt waren. Am nächsten Morgen gab es noch ein gemeinsames Frühstück, jetzt dürfte er wieder im Odenwald gelandet sein und Eis und Schnee genießen.

Jetzt aber erst mal der Reihe nach. Auch Haifa war eine schöne Sache. Wie überhaupt hier: man muss nur aus der Tür gehen und schon passiert irgendwas Interessantes. Meine Unterkunft war ja direkt am Meer und so musste ich am Sonntag erst mal mit der Schnellbuslinie 1 ins Zentrum fahren. Ich blieb dann den ganzen Vormittag in der German Colony hängen, der alten Templersiedlung. Die Templer haben mit den Kreuzrittern des Mittelalters nichts zu tun. Sie waren Pietisten im 19. Jahrhundert, die der Überzeugung waren, die Wiederkunft Christi stünde unmittelbar bevor.
Daraufhin gab es Ärger mit der Landeskirche und sie spalteten sich ab. Um vollends konsequent zu bleiben, zogen sie ins Heilige Land, um hier den Messias zu empfangen.

Auch hier stritten sie sich heftig (das hatten wohl fromme Gruppen schon immer so an sich), trennten sich und gründeten verschiedene Niederlassungen u. a. in Haifa, Jerusalem und Sarona (heute in Tel Aviv, das es damals noch nicht gab). Der Messias kam bekanntlich nicht, also richtete man sich gut deutsch ordentlich ein. Die Privat-, Gemeinschafts- und Produktionshäuser sind heute noch eine Augenweide. Ich liebe besonders die Bibelsprüche an den Hauseingängen wie:"Befiehl du deine Wege."

Blick auf den Bahai-Tempel

Blick auf den Bahai-Tempel

Sunset Tel Aviv

Sunset Tel Aviv

Bekannter ist freilich der Blick auf den Bahai-Tempel, ebenfalls von der German Colony aus.

Das ist eine synkretistische Religion, die aus dem Islam hervorgegangen ist und alles Schöne, Gute, Reine als Weg zu Gott verehrt. Der Gründer ist in Haifa im Tempel beerdigt. Im Iran steht die Todesstrafe auf diesen Glauben. Leider waren Garten und Tempel wieder mal zu und es blieb nur der Blick durch den Zaun.

Sarona, Templersiedlung Tel Aviv

Sarona, Templersiedlung Tel Aviv

Am Montag ging es mit dem Zug nach Tel Aviv. Am Abend hatte ich bei Sonnenuntergang eine Begegnung mit einem Mann in den Mittzwanzigern. Etwas untypisch für Land und Leute war er; nicht gerade bildungsbeflissen und begnügt sich mit einem Arbeitsloseneinkommen von ca. 1000 Euro, die Mama hilft ein bisschen dazu. Es ging neben Sonnenuntergang, Terrorismus, Freizeitverhalten schließlich auch um Deutschland. Unvermittelt fragte er mich, welche Feinde wir denn hätten. Auch so viele wie Israel mit Hamas, Hisbollah, Iran etc.? Ich sagte, nein wir hätten keine äußeren Feinde, allerdings müssten wir uns mit Nazis und Neonazis herum schlagen. Er war fassungslos und meinte, die Deutschen seien doch Nazis, "wie können sie dann eure Feinde sein!?". Wie gesagt, es gibt hier nichts, was es nicht gibt...

Den nächsten Tag bis zur unverhofften Begegnung am Abend verbrachte ich fast ausschließlich in Sarona, der hiesigen Templersiedlung, die ich noch interessanter finde als die anderen im Land.
Das liegt auch an der Bebauungspolitik in Tel Aviv. Wenn große Konzerne bauen wollen, können sie das, aber sie müssen die ursprüngliche Bausubstanz nicht nur erhalten, sondern auch restaurieren. Und so gibt es jetzt wunderbar renovierte Kegelbahnen, Weinkeller, Ölmühlen u. ä. zu bewundern.

Nicht zu vergessen, die ausgesprochen gute Gastronomie mitten drin. Glauben und Können, Religion und Arbeitsethos gehen doch gut zusammen, auch wenn man andernorts nicht den Eindruck hat!

Am Tag darauf habe ich endlich die Bekannten von früheren Besuchen getroffen. Es wurden sehr schöne Begegnungen mit intensiven Diskussionen über Gott und die Welt. Aber erst mal haben sie mich alten Kunstmuffel mit ins Tel Aviver Kunstmuseum mitgenommen, was mir sehr gut getan hat.

Roy Lichtenstein, Print Ref. 238, 1989, Tel Aviv Museum of Art

Roy Lichtenstein, Print Ref. 238, 1989, Tel Aviv Museum of Art

Marc Chagall

Marc Chagall "Solitude", 1933, Tel Aviv Museum of Art

Sisyphus and Jacob at the Well, 2009, Tel Aviv Museum of Art

Sisyphus and Jacob at the Well, 2009, Tel Aviv Museum of Art

Am nächsten Abend waren wir in einem schönen Film über das Altern und die verpassten Gelegenheiten, für die es freilich nie zu spät ist. Und dann wie schon erwähnt die Diskussionen über jüdisch-christlich, Glauben in säkularen Zeiten, Theodizee bis hin zur Prozesstheologie. Bedauert habe ich nur, dass ich nicht besser Englisch kann.

Gestern dann kam der Gewittersturm. Vorher habe ich eine ausgiebige Bauhaus-Tour gemacht, vorbei am Nationaltheater Habima, dann durch den Rothschild Boulevard mit wunderbaren alten Häusern vor der New York-mäßigen Hochhauskulisse.
Jeder Meter Weg hier hat Geschichte und es wird einem auf eindrückliche Weise bewusst gemacht.

Unwetter, Tel Aviv, 12. Dezember 2019

Mittags dann das Unwetter, bedrohlich, aber so schön!

Tel Aviv, 13. Dezember.2019

10. VON JERUSALEM NACH HAIFA ÜBER GALILÄA

Am Sonntag haben wir in unserer Stammkneipe mit einem guten Essen und ein paar Bieren zünftig Abschied gefeiert. Sam kehrt nach Tschechien zurück, Anne und Diana vertiefen ihr Architekturstudium, Volo Vincent sieht auf dem Auguste-Victoria-Compound nach dem Rechten und Archie habe ich eingeschärft, nicht über die Stränge zu schlagen.

Dann ging es am Montag mit dem Bus durchs Jordantal nach Tiberias am See Genezareth, die Israelis nennen ihn Kinneret. Auch er liegt wie das Tote Meer unter dem Meeresspiegel und so kam ich ganz schön ins Schwitzen bis ich mein Quartier, das Lake-House in Migdal, erreicht hatte. Blick auf See und Golan, der Pool, das gemütliche Chalet entschädigten mich sofort und es wurden entspannte Tage dort.

Blick zum Kinneret, im Hintergrund der Golan

Blick zum Kinneret, im Hintergrund der Golan

Abschiedsfeier

Abschiedsfeier

Meine Unterkunft - Lake-House in Migdal

Meine Unterkunft - Lake-House in Migdal

Der Gegensatz zum überfüllten, hektischen, immer etwas angespannten Jerusalem ist groß. Galiläa ist ländlich, grün, dünn besiedelt, fast witzig wirkt es, wie überall auf den Hängen die schwarzen, meist runden, Basaltsteine rumliegen, als ob jemand die Landschaft designt hätte.
Das ist die Heimat Jesu und hierher passen auch seine Gleichnisse mit ihrem Bezug zum einfachen Leben, nicht nach Jerusalem mit der aufgeladenen, manchmal feindseligen Atmosphäre. Ernst Renan, einer der Begründer der Leben-Jesu-Forschung im 19. Jahrhundert, hat vom "galiläischen Frühling " im Wirken Jesu gesprochen und ich denke, er hat da was Richtiges gesehen, auch wenn wohl öfter in seinem Jesus-Buch die Phantasie mit ihm durchgegangen ist.

Ausgrabungen von Magdala

Ausgrabungen von Magdala

Hafenreste in Magdala, im Hintergrund Eukalyptusbäume

Hafenreste in Magdala, im Hintergrund Eukalyptusbäume

Ganz nah an Jesus kommt man bei dieser Ausgrabung ran. Im Jahr 2009 ist man auf die Überreste dieser Synagoge gestoßen, als hier eine große Hotelanlage gebaut werden sollte. Und nach und nach kam das antike Magdala zum Vorschein mit Marktplatz, Hafen, vier Mikwen und jede Menge Utensilien, insbesondere zu Fischfang und -verarbeitung.
Literarisch war die relativ große und bedeutende Stadt wieder mal durch Josephus längst bekannt, archäologisch nachgewiesen war sie bis dato nicht. Die Funde in der Synagoge weisen eindeutig auf das 1. Jahrhundert n. Chr. und vor die Zerstörung im Jüdischen Krieg (ca. 70 n. Chr.) hin, aber ob sie zur Lebzeit Jesu bestand, bleibt offen. Immerhin passt das gut zur Maria aus Magdala, die aus diesem Ort kam und wohl die bedeutendste Frau unter den Anhängern Jesu war. Die vier Evangelien stimmen darin überein, dass sie ihm bis nach Jerusalem gefolgt ist und als erste das leere Grab am Ostermorgen vorgefunden hat (Mk 16 parr.).

Bevor ich am Dienstag die zwei Kilometer vom Quartier zum See marschiert bin, hat mich der Hallenser Helmut auf einen Artikel in der Jerusalem Post aufmerksam gemacht. Es geht darin um einen palästinensischen "Wissenschaftler", der behauptet, die Juden seien erst 1948 ins Land gekommen, um den Menschen hier das Land wegzunehmen. Eine frühere jüdische Besiedlung habe es nie gegeben, die Ausgrabungen seien fake oder alternativ zu deuten. Das gefällt natürlich auch der PA (Palästinensische Autonomiebehörde). Nach der Besichtigung von Magdala habe ich mir dann vorgestellt, wie die Israelis das alles gefakt haben könnten: erst alles an Ort und Stelle verbuddeln, dann auf antik stylen und schließlich wieder fein säuberlich ausgraben.
Solche schwachsinnigen Theorien sind leider sehr real und lassen kaum auf vernünftige Friedensgespräche hoffen.
Da habe ich mir dann Helmuts Idee zu eigen gemacht und mir am Abend ein Fläschchen Wein von den Golan Heights gegönnt, politische correctness hin oder her.

Aschkenasische Ari Synagoge, Safed (Zfat)

Aschkenasische Ari Synagoge, Safed (Zfat)

Das Städtchen ist heimelig mit den engen Gassen, die sich am Steilhang der Stadt entlang ziehen, und der überall begegnenden blauen Farbe der Mystiker. Auch wirken die Frommen hier viel entspannter als in Jerusalem.

In einer Jeschiwa wurde ich freundlich begrüßt und durfte ein bisschen mit in den Talmud schauen. Ein anderer hat sich freundlich bedankt, als ich meinen Fotoapparat wieder absetzte, als er mir gerade ins Bild lief. Auch viele Künstler haben sich hier niedergelassen und stellen Bilder und Kunsthandwerk aus, sehr schöne Sachen.

Ein schönes Plätzchen für alternatives Leben jeder Art. Das ist mir tausendmal lieber als die "alternativen Fakten", mit denen uns die Bibis und Trumps dieser Welt quälen.

Am Mittwoch habe ich einen Ausflug nach Safed (Zfat) gemacht in das Städtchen der Mystiker und Künstler.
Es geht von ungefähr 200 m unter dem Meeresspiegel auf über 800 m hinauf.

Irgendwann liegen unterwegs nicht mehr schwarze Steine im Feld, sondern wieder die schönen schon aus Jerusalem bekannten weißen, manchmal orange-rötlich schimmernden Steine.

Im 16. Jahrhundert ließen sich hier berühmte Kabbalisten nieder wie Abraham Luria oder Josef Karo. Man sagt, die gute Höhenluft hätte die mystische Spekulation in die Geheimnisse Gottes begünstigt.

Gässchen in Safed

Gässchen in Safed

Sonnenuntergang Haifa

Sonnenuntergang Haifa

Und jetzt bin ich schon in Haifa und wurde mit diesem Sonnenuntergang empfangen...

Haifa, 06. Dezember 2019

5. DEUTSCH-TSCHECHISCHE EXPEDITION IN GESCHICHTE UND POLITIK 

Die Vermieterin von meinem tschechischen Freund Sam, nennen wir sie Abisag, hatte vorgeschlagen, uns zum Herodion zu fahren und uns eine oder zwei von den "Settlements", also den Siedlungen im Westjordanland zu zeigen. Sie hat einen kleinen Suzuki-Jeep, den sie "my baby" nennt.


Anfangs gab es kleine Probleme mit dem Treffpunkt, was mir aber zur Besichtigung des Pillpulls verhalf, einem Miniwachpostenbunker aus der Zeit des britischen Mandats in Palästina.
Es ging offensichtlich noch nie so ganz problemlos zu im Land!

Pillbull

Pillbull

Blick auf den Palast/Herodion

Blick auf den Palast/Herodion

Zuerst ging es also zum Herodion, ein paar Kilometer südlich von Bethlehem gelegen. Ein sehr auffälliger, oben abgeschnittener Kegelberg, der künstlich in der Herodeszeit aufgeschuettet und bebaut wurde. Strategisch hat er wohl keine Bedeutung gehabt, aber Herodes hat ja gerne auf Repräsentation gesetzt und laut Josephus hat er dort auch den Schwiegersohn von Augustus empfangen. Wie er sich überhaupt als König nur halten konnte, weil er mit den Römern eng verbandelt war und das äußerst geschickt. Jedenfalls hat er verfügt, dass er im Herodion bestattet werden soll und so geschah es. Auch das wissen wir von Josephus, dem jüdischen Geschichtsschreiber, der sich ebenfalls gut mit den Römern stellte, nachdem er im Aufstand von 66-70 n. Chr. noch gegen sie gekämpft hatte.

Mein Freund Sam auf dem Herodion

Mein Freund Sam auf dem Herodion

Umfassungsmauer Herodion

Umfassungsmauer Herodion

Ostturm Herodion, als einziger von 4 ausgegraben

Ostturm Herodion, als einziger von 4 ausgegraben

Lange hat man nach dem Grab vergeblich im oberen Palast gesucht, bis es der israelische Archäologe Ehud Netzer im Jahr 2007 oberhalb des Theaters etwas abgelegen vom Palast gefunden hat. Ein gutes Beispiel dafür, dass die antiken Schriftzeugnisse eben doch zuverlässig sind, wenn man sie richtig zu lesen versteht.

Netzers Leidenschaft für Herodes endete leider tragisch: 2010 stürzte er bei einer Arbeitspause rückwärts in einen Schacht, als das Stück Erde einbrach, auf dem er gerade saß. Er starb am Ort seines größten Erfolgs, vielleicht doch nicht der schlechteste Tod.

Geheimtunnel aus der Bar-Kochba-Zeit (machten nochmal Aufstand gegen die Römer ca. 135 n. Chr.)

Geheimtunnel aus der Bar-Kochba-Zeit (machten nochmal Aufstand gegen die Römer ca. 135 n. Chr.)

Nach einer Eis-Pause ging es weiter in die Siedlung Nogad, wo der Bruder Abisags wohnt. Sie zeigte uns zuerst den Wohnwagen, mit dem alles begann. Das ist auch immer dieselbe Methode der Siedler: sie stellen auf die Spitze eines Hügels einen Wohnwagen. Nach einiger Zeit beginnt man zu bauen, denn offenbar gehört ja das Land niemandem. Irgendwann wird die Siedlung legalisiert, keine Ahnung wie. Abisags Bruder hat dann in eben dieser Siedlung gebaut und wollte, dass sie sich beteiligt. Aber ihr war das zu riskant, denn manchmal werden die Häuser wieder abgerissen, weil sie nach israelischen (Besatzungs-) Recht illegal gebaut wurden. In diesem Fall aber hätte es sich gelohnt, das Haus des Bruders ist inzwischen bedeutend mehr wert.

Dann sind wir auf einem Feldweg in eine phantastische Steppenlandschaft rein gefahren. Links hinter den Bergen liegt das Tote Meer, vage zu erkennen die hohen Berge des biblischen Moab, heute Jordanien.

Abisags Einstellung zu der ganzen Sache ist nicht so ganz klar. Die Landnahme mit den Wohnwagen hörte sich in meinen Ohren zumindest skeptisch an. Dann aber meinte sie mit dem Hinweis auf die tolle Landschaft: "Why should we give it to the Arabs?" Meine Bemerkung, dass ich denke, es ist Platz genug für alle, ließ sie unkommentiert.

Jerusalem, 29. Oktober 2019

4. NACH DEN FEIERTAGEN

Nach den Feiertagen fühle ich mich etwas angeschlagen. Mögliche Ursachen gibt es einige: die Klimaanlagen in Bus und Bahn sorgen von jetzt auf nachher für einen Temperaturunterschied von etwa 20 Grad; das Bier wird knapp unter dem Gefrierpunkt serviert, zum Ausgleich Kaffee und Tee knapp unter dem Siedepunkt. Jedenfalls bin ich etwas abgeschlafft. Egal, seit gestern sind mit dem 8.Tag des Laubhüttenfests, zugleich Torafreudenfest, die Feiertage vorbei.

Laubhütte

Laubhütte

Im jüdischen Teil der Stadt war unglaublich viel geboten. Massen von Menschen waren unterwegs, Livebands an vielen Ecken und Kinderbespaßung jeder Art. Am Donnerstag dann der Jerusalem-Marsch [1]. Etwa 70000 Menschen aus aller Herren Länder sind durch die Stadt gezogen, haben den Verkehr lahmgelegt und ihre Solidarität mit dem jüdischen Staat zum Ausdruck gebracht. Ich saß bevor der Demozug kam, an einer exponierten Stelle und habe mich mit anderen Zaungästen unterhalten. Ältere Herrschaften, die meinten, sie seien "the liberal face of the country". Ich fragte, ob die Marschleute nicht zu den Liberalen zählen. Die Antwort war ungefähr, sie meinen es schon gut, blicken es aber nicht so recht. Diese Einschätzung kommt meiner Sicht ziemlich nahe. Bei so einer Gelegenheit tauscht man sich gerne auch aus: "Where are you from?". Die eine Frau war aus Neuseeland eingewandert, hat aber ihre Wurzeln in Breslau. Die andere hat ihre "Aliya" (Einwanderung) von Südafrika gemacht, ihre Familie kommt aber aus Düsseldorf. Was für Geschichten mögen damit verbunden sein?

Seit heute wird auch wieder Politik gemacht. Netanjahu hat es nicht geschafft, eine Regierung zu bilden und gibt den Auftrag an Staatspräsident Rivlin zurück. Das war zu erwarten. Rivlin wird jetzt Blau-Weiß-Chef Gantz [2] beauftragen dasselbe zu probieren. Vermutlich wird auch er scheitern. Dann könnte es noch einmal zu Wahlen kommen, wenn nicht doch noch in der Zwischenzeit Klage gegen Netanjahu erhoben wird. Wenn dem so ist, könnte der Likud sich doch noch auf eine große Koalition einlassen, dann freilich mit einem anderen Spitzenkandidaten. [3]
Ansonsten bewegt hier das Land ein Zwischenfall in der vergangenen Woche. In einer Siedlung im nördlichen Westjordanland wurde eine Militärstreife von radikalen Siedlerjugendlichen angegriffen mit verletzten Soldaten. Die sogenannte "Hügeljugend" wehrt sich dagegen, dass die Soldaten die Olivenernte von Palästinensern schützen, bzw. Friedensgruppen helfen die Ernte zu unterstützen. Die Empörung über die Radikalen ist natürlich groß im Land, selbst die meisten Siedler solidarisieren sich mit der Armee. Die Linke allerdings meint, man müsste empört sein, wenn palästinensische Bauern bei der Ernte, bzw. überhaupt, angegriffen werden und nicht erst dann, wenn "unsere" Soldaten zur Zielscheibe werden. Recht haben sie!

Was kriege ich von all dem direkt mit? Eigentlich nichts. Ich fahre ja täglich mit den vollen arabischen Bussen zum Damaskustor und zurück. Der Alltag der Menschen wirkt sehr normal. Besonders viele Schulkinder und Jugendliche sind in den Bussen unterwegs. Nach meinem Gefühl hat auch hier die Diversifizierung Einzug gehalten. Die Kinder tragen Schulkleidung, nicht ganz einheitlich, aber doch ähnlich. Die älteren Jungs stylen sich eher westlich bis hin zu irokesenaehnlichen Frisuren, die älteren Mädchen tragen teils traditionelle Kopfbedeckung, teils sind auch sie ganz modern gestylt. Konfliktpotential gibt es, wenn die präpotenten Jugendlichen den traditionellen religiösen jüdischen Jugendlichen begegnen. Die müssen ja, oder gehen zumeist, durch das Damaskustor, um zum Kotel (Klagemauer) zu gelangen. Neulich habe ich einen mit "Wagenrad" mit ziemlich verschrecktem Gesichtsausdruck sehr schnell durch den Suk laufen gesehen. Tatsächlich war ein arabischer Jugendlicher hinter ihm mit eher belustigt-aggressivem Gesichtsausdruck. Zum Glück ist es zur nächsten Sicherheitswache nicht weit und in der Regel endet es harmlos. Aber es wird auch immer wieder von Messerattacken berichtet.

Im Vergleich zu früheren Jahren kommt es mir derzeit in Jerusalem selbst recht ruhig vor. Die Politik der Jerusalemer Stadtverwaltung scheint nicht sehr restriktiv gegenüber Arabern zu sein. Im Gegenteil: hier oben auf dem Ölberg wurde vor kurzem in unmittelbarer Nachbarschaft eine Moschee hochgezogen. Die Lautstärke des Muezzin ist gewaltig. Um 5 Uhr morgens ruft er sein "Allahu akbar" so laut, dass ich fast aus dem Bett falle. Auch sonst sprießen in Israel, nicht im besetzten Gebiet (!), die Moscheen wie Pilze aus dem Boden. Sicher ein Zeichen fortschreitender Islamisierung, aber auch einer liberalen (Religions-) Politik Israels. Wie gesagt, die Sache ist ambivalent: auch der westliche Lebensstil unter Palästinensern wächst. Aber das sind subjektive Eindrücke. Vielleicht gibt es am Ende des Aufenthalts mehr Klarheit.

Jerusalem, 22. Oktober 2019

[3] Link Wikipedia Parlamentswahl in Israel 2019: https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahl_in_Israel_September_2019

3. WO ICH WOHNE

Jetzt wird es Zeit, mal zu erzählen, wo ich überhaupt untergekommen bin.
Ich habe ein Zimmer im Gästehaus des Deutschen Evangelischen Archäologischen Instituts (DEI) [https://www.deiahl.de/] auf dem Ölberg in Jerusalem.
Ich blicke von meinem Zimmer aus nach Osten Richtung Judäische Wüste, Richtung Jericho und Totes Meer, das man bei gutem Wetter deutlich sehen kann. Auch Jordanien mit der Hauptstadt Amman ist besonders nachts an den Lichtern deutlich zu erkennen. Der Ostabhang des Ölbergs ist eine Wetterscheide. Die feuchte Luft im Winterhalbjahr kommt vom Mittelmeer her, schafft es aber meist nicht über den Berg, sondern regnet sich vorher aus. Deshalb kann man sagen, dass hier gleich die Wüste beginnt, was aufgrund der Bebauung allerdings nicht leicht zu sehen ist.

Rechts neben der Moschee kann man im Hintergrund Bethlehem erahnen, am Berg gegenüber rechts sind wir ganz in der Nähe von Bethanien, wo Jesus laut Johannesevangelium die Freunde Maria, Martha und Lazarus hatte, wo er auch auf seiner Wanderung nach Jerusalem untergekommen ist.

Deutsche Weihnachtskirche in Bethlehem

Deutsche Weihnachtskirche in Bethlehem

Blick in die Geburtskirche Bethlehem

Blick in die Geburtskirche Bethlehem

Die Geburtskirche in Bethlehem ist eine der ältesten Kirchen überhaupt aus der Zeit von Kaiser Konstantin und gut besucht, wie man auf dem Bild sieht.

Der Ölberg gehört zum arabischen Teil von Jerusalem (Ostjerusalem). Wenn ich in das jüdische Westjerusalem will, fahre ich mit dem arabischen Bus zum Damaskustor und dann mit der Straßenbahn weiter zum Beispiel in die Jaffastrasse.
Am Sabbat und an den Feiertagen fahren aber keine jüdischen öffentlichen Verkehrsmittel, daher war ich in den letzten Tagen viel zu Fuß unterwegs und musste schon zeitweise wegen der Dauerbelastung meiner schwächelnden Knie zum Stock greifen.

Alla, der Blick von hier ist hochpolitisch! Israel sagt: ganz Jerusalem gehört uns und ist annektiert. Die UN (und natürlich auch die BRD) sagen, nein das ist noch nicht geklärt bis es zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts kommt. Daher haben fast alle Länder ihre Botschaften in Tel Aviv.

Ein berüchtigter Politikstratege unserer Tage sieht das natürlich anders:

Embassy USA, Jerusalem

Embassy USA, Jerusalem

Blick auf die Israelischen Sperranlagen

Blick auf die Israelischen Sperranlagen

Von hier aus ist auch gut die berühmt-berüchtigte Mauer zu sehen.

Gebaut nach der 2.Intifada ab 2001, wenn ich mich richtig erinnere, sollte sie den Terror unterbinden, der von den palästinensischen Gebieten ins Staatsgebiet Israel getragen wurde. Das hat sie auch weitgehend geschafft. Natürlich ist sie extrem hässlich und für die Menschen auf der anderen Seite mit schlimmen Einschränkungen verbunden, aber zerfetzte Menschen von der Straße abzukratzen ist noch hässlicher. Und wir wissen ja: Mauern kann man wieder abreißen! Aber das liegt derzeit in weiter Ferne.

Zur Politik irgendwann mehr. Lieber noch ein paar Bilder von Archie, der frechsten Katze hier und von Gebäude und Garten des Instituts. Ach so, gebaut wurde der ganze Komplex hier auf Veranlassung von Kaiser Wilhelm (1910 fertig), zu Ehren seiner Gattin, Auguste-Victoria-Stiftung genannt. Das Institut ist eigentlich das ehemalige Gärtnerhaus, Kirche und Krankenhaus waren der ursprüngliche Zweck.

Jerusalem, 16. Oktober 2019

Deutsches Evangelisches Archäologisches Institut (DEI)

Deutsches Evangelisches Archäologisches Institut (DEI)

Garten DEI

Garten DEI

Garten und Gebäude DEI

Garten und Gebäude DEI

2. NACH DER ERSTEN WOCHE IN JERUSALEM

Es regnet in Jerusalem und in der Wüste. Bisher war es sehr heiß, jeden Tag über 30 Grad. Die Feiertage sind vorbei, der Ausnahmezustand also in jeder Hinsicht beendet.

Gestern war der erste Tag des Laubhüttenfestes. Wir waren in einer "konservativen" englischsprachigen Synagoge, d.h. Frauen wirken im Gottesdienst mit, es wird gepredigt und recht "rational" gefeiert. Der Brauch mit dem Feststrauß "Lulav" ist aber überall gleich. Er besteht aus Bachweidenzweigen, Palmzweig, Ölbaumzweig und dem ominösen Etrog. Die vier Arten symbolisieren vier Charaktere von Menschen. Die Predigt lief darauf hinaus, dass man jede Art Mensch braucht, z. B. um den Staat Israel zu gestalten. So was wie Inklusion, wenn ich es richtig verstanden habe. Der Etrog ist eine Zitrusfrucht, muss sich aber insbesondere von der Zitrone unterscheiden. Er darf nicht schmackhaft sein, nicht glatt, sondern runzlig und er darf keine Fehler wie Risse oder Stiche haben. Daher wird er beim Kauf genau mit der Lupe untersucht; Marta meinte wie "Diamanten". Man zahlt dafür zwischen 5 und 100 Euro nach Auskunft eines Händlers.

Nach dem Gottesdienst ging es ohne die tschechischen Freunde weiter ins Bucharaviertel, das von Ultraorthodoxen bewohnt wird, genau wie Mea Schearim, das direkt angrenzt. Viele Leute waren in Festkleidung (Pius hatte besonderen Spaß an den verschieden großen "Wagenrädern" auf dem Kopf der Männer) und mit dem Lulav unterwegs. Entzückt waren wir auch von dem Lampenladen (Bild) und dem riesigen Transparent, welches die Sekte "Neturei Karta" aufgehängt hat (Bild). Das sind die Lieblingsjuden der PLO und der Antizionisten in der ganzen Welt, weil sie den Staat Israel grundsätzlich ablehnen und bekämpfen. Allerdings sind sie auch in den ultraorthodoxen Vierteln eine ganz kleine Minderheit.

Lampenladen

Lampenladen

Transparent der Sekte

Transparent der Sekte "Neturei Karta"

Zeitungsartikel zur Sekte

Zeitungsartikel zur Sekte "Neturei Karta"

Sukkot wird 8 Tage lang gefeiert, Mahlzeiten nimmt man, wenn möglich in den Laubhütten ein (Bild), die auf den Balkons vieler Häuser zu sehen sind.

Dennoch geht jetzt das normale Leben weiter nach Neujahr (Rosch Haschana), Jom Kippur und eben Sukkot. Wie bei unserem Jahreswechsel mit Weihnachten, sind auch hier etwa zwei bis drei Wochen Ferien.

Laubhütte

Laubhütte

Wir waren ja am Tag vor Jom Kippur angekommen und gleich in eine verwirrende Situation bezüglich der Öffnungszeiten geraten. Dazu kam noch der Sonntag, den ich mit dem Besuch der deutschen Erlöserkirche begangen habe - mit einer ausgezeichneten Predigt von Rainer Stuhlmann über die Hure Rahab (Jos2).

Soviel zunächst mal zur Religion, demnächst wieder was politisches, Netanjahu hat sich ja noch nicht erledigt.

Jerusalem, 15. Oktober 2019

1. VOR DEM ABFLUG

Wahrscheinlich liegt´s am Alter. Ich weiß nicht mehr, wem ich was erzählt habe. So auch jetzt vor der Abreise nach Israel. Was mache ich dort, wo wohne ich, wie lange bleibe ich und ist es nicht gefährlich? Deshalb probiere ich mal einen Blog, wie lang und wie oft, „schau mer mal“ (6,5 Millionen Franz) [1]. Sylvie hat das Technische ermöglicht, danke! Alla! [2] 

Im Moment ist natürlich Netanjahu das Thema im Blick auf Israel. In den nächsten Tagen oder Wochen muss ja wohl eine Entscheidung fallen, wie es politisch weiter geht. Schafft er es noch einmal, die Schlinge aus dem Hals zu ziehen? Dann bleibt er auch vermutlich Premierminister und die alte Politik wird wieder aufgelegt. Wird er von Staatsanwalt Mandelblit wegen drei Korruptionsvergehen angeklagt, dann dürfte er politisch ausgespielt haben, denn dann wird sogar ein Gefängnisaufenthalt wahrscheinlich. Die israelische Justiz ist da sehr konsequent und unabhängig [3], man hat auch schon ehemalige Staatspräsidenten in den Knast wandern sehen.

Andererseits ist Netanjahu sehr gewieft, hat seine Finger in etlichen Institutionen drin, vielleicht auch die eine oder andere Person in der Hand, und vielleicht zieht er ja noch den einen oder anderen überraschenden Joker. Spannend ist auch, wie sich seine Partei, der Likud, verhält. Bisher hatte es den Anschein, als ob sie in Nibelungentreue hinter ihrem Chef steht, aber jetzt scharrt Gideon Saar mit den Hufen und signalisiert Bereitschaft, mit möglichen Koalitionspartnern zu verhandeln. Wer sind diese? Wie immer in Israel ist die Sache etwas kompliziert.

Wahlsieger war das Blau-Weiß-Bündnis mit dem ehemaligen Armeechef Benny Gantz an der Spitze und mit Yair Lapid, der auch schon mal in einer von Netanjahus Regierungen war. Blau-Weiß hatte 34 Sitze, Likud 33 Sitze gewonnen. In der Knesset braucht man für eine regierungsfähige Mehrheit 61 Sitze, davon sind also beide Wahlbündnisse weit entfernt [4]. Also muss man versuchen, einen mehrheitsfähigen Block zu bilden. Dann käme der Likud auf 55 Sitze, zusammen mit den beiden religiösen Parteien Shas und Vereinigtes Thorajudentum [5]. Gantz müsste auf arabische Parteien zurückgreifen, zwei von ihnen würden seine Regierung tolerieren, eine verweigert sich gänzlich für die Zusammenarbeit mit den „Zionisten“. Blau-Weiß käme demnach mit Unterstützern auf 54 Sitze. Daher hat Staatspräsident Rivlin Netanjahu den Regierungsauftrag erteilt, weil er größere Chancen auf eine Mehrheit hat. Zünglein an der Waage ist Avigdor Liebermann, der mit seiner Partei "Haus Israel" acht Mandate gewonnen hat [6]. Liebermann ist eingewanderter Russe, seine Partei stramm rechts national, aber antireligiös. Er will unter allen Umständen die Privilegien der Religiösen abschaffen (Militärpflicht!), andererseits will er nicht mit den Arabern zusammen gehen. Wenn er nicht doch nach einer Seite hin einknickt, bleibt nur eine große Koalition Blau-Weiß/ Likud. Diese wäre auf alle Fälle auch rechts gestrickt; Gantz ist in der Palästinenserfrage, die im Übrigen im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt hat, noch härter als Netanjahu. Große Koalition geht aber nur ohne Netanjahu, darauf hat sich Gantz im Wahlkampf festgelegt. Ein Schuh wird aus der Sache aber nur, wenn der Likud tatsächlich Saar an die Spitze ließe. Allerdings ist für Saar dann die Gefahr als „Königsmörder“ abgestraft zu werden, ziemlich groß.

Die Dinge liegen also nicht so einfach, das irritiert und fasziniert! Vor Jahrzehnten gab es mal ein Buch, in dem Volontäre in Israel über ihre Erfahrungen geschrieben haben. Zumindest der Titel ist noch hoch aktuell: „Dieses Land pack ich nicht!“ [7]. Einfache Urteile über dieses Land und seine Realität sind unseriös. [8] 

Alla, übermorgen geht es also mitten hinein in die Geschichte. Natürlich geht es mir nicht nur um Politik, aber sie ist halt ein naheliegendes Beispiel, um sich im Moment diesem Land anzunähern. Ich habe für zwei Monate ein kleines Zimmerchen bei den deutschen Archäologen auf dem Ölberg gebucht. Normal wohnen dort die Volontäre, die bei den Ausgrabungen mitmachen. Gegraben wird aber nur im Sommer, im Winter wird ausgewertet und gelehrt. Jetzt ist nach den jüdischen Feiertagen der Sommer endgültig vorbei. Die Grabungsleiter sind ja meistens Profs an den Unis. Als ich in meinem Sabbathalbjahr Winter 1992/93 in Jerusalem war, bin ich dort manches mal bei Sauwetter freundlich aufgenommen worden und es war ein alter Wunsch von mir, dort mal länger zu bleiben. Jetzt ist es so weit, dem deutschen Beamten- und Kirchenrecht und der Sozialgesetzgebung sei Dank, dass man im fortgeschrittenen Alter solche Privilegien hat.

Mannheim, 6.Oktober 2019

[1] Im Zeitalter von Fake News, versuche ich altmodisch manchmal die Dinge zu belegen. Franz Beckenbauer hat gewiss das Recht urheberrechtlich nicht bestohlen zu werden.

[2] Kurpfälzisch: auffordernde Bedeutung; eigentlich unübersetzbar.

[3] Hier lohnt ein vergleichender Blick auf ähnlich populistisch agierende Gestalten wie z.B. Erdogan. Nach meiner Wahrnehmung hat der die weniger stabilen demokratischen Institutionen der (kemalistischen) Türkei, insbesondere die Justiz, viel stärker gleichgeschaltet und kann selbstherrlich quasi als „Sultan“ agieren. Seine Tage sind wohl auch gezählt, aber aus anderen Gründen. In Israel funktioniert die Gewaltenteilung sehr gut und Netanjahu hat es eben nicht geschafft, sich aufgrund fehlender Mehrheiten Immunität zu verschaffen!

[4] Auch Likud und Blau-Weiß bestehen aus mehreren Parteien und sind Bündnisse, die auf Kompromissen von Interessen beruhen!

[5] Shas repräsentiert die sephardischen Religiösen, das sind die Einwanderer überwiegend aus den arabischen Ländern, die nach und während des Unabhängigkeitskrieges (1948) und des Sechs-Tage-Krieges (1967) vertrieben wurden. DegelHaThora repräsentiert das askenasische Judentum, also überwiegend osteuropäisch stämmige Einwanderer, die in verschiedenen Einwanderungswellen (Aliyas) schon seit Ende des 19. Jahrhunderts ins damalige Palästina eingewandert sind.

[6] Hier das genaue Wahlergebnis:

[7] R.von Benda, „Dieses Land pack ich nicht“. Junge Deutsche in Israel und der Westbank, München 1991

[8] Das gilt generell in der Politik und wohl auch im Leben. Darüber vielleicht mal bei Gelegenheit mehr. Die Populisten weltweit haben uns daran in den letzten Jahren ja übelst erinnert!

Kommentare

Willi

30.11.2019 12:58

nach auflagenstärkerer Veröffentlichung, nicht zuletzt deswegen, weil du langsam aber stetig zum Israel-Experten mutierst ! Mehr, mehr, mehr .... ! VG W.

Heinz

10.12.2019 16:35

Old Friend Willi (OFW), danke für deine beifällige Kommentierung! Schreib mal, was dich noch so interessieren würde. Aus Tel Aviv beste Grüße OB

Willi

30.11.2019 12:51

HOB, deine "Abhandlungen" entwickeln sich immer stärker zu einer zeitgeschichtlichen Analyse Israels und des Nahen Osten - klasse, wie du das machst. Schreit förmlich

Michael

10.11.2019 14:55

Rebecca war der "Zwangstaufname" von Pocahontas, die widerum ein Vorbild für Winetous Schwester Nscho-tschi bei Karl May ... vielleicht so.

Angelika

10.11.2019 12:09

Zweiter Teil: jedenfalls hab ich mit Oma Kastner (89), die zweimal in Israel war, einige spannende Gespräche. Und sie beneidet dich! Liebe Grüße Angelika

Heinz

10.11.2019 14:48

Danke Angelika, Gruß an Oma Kästner! Hast du schon, den Psycho-Blog gelesen? Zwei Studentinnen hier sehen es genau so :zu viele Verrückte! Aber es ist auch immer wieder sehr schön!

Angelika

10.11.2019 12:06

Hallo Heinz! Ich hab dir schon zweimal geschrieben, allerdings vom Freibergsee und die Allgäuer Berge scheinen die Übertragung zu stören. Kommt noch was...

Michael

09.11.2019 08:03

Bissle Pädagogisches zum Thema religiöse Vielfalt find ich gut ... vielleicht ist ja auch "Atheismus" eher eine Schattenpflanze religöser Monokultur.

Heinz

09.11.2019 20:38

Wenn ich es richtig verstanden habe, stimme ich zu. Manche Religiossoziologen zählen A. ohnehin zur Religion!

Helmut

08.11.2019 17:28

zurück. - Das Immer-neu-Anfangen nervt, kann man das vermeiden?
Liebe Grüße aus Germany, genauer aus Lampenhain, auch von Ruth

Helmut

08.11.2019 17:26

Köln gegen Hoffenheim. Das Sportheim in Heiligkreuzsteinach bietet das nicht. Zuvor will ich noch mit Ruth Kässpätzle essen, ich hoffe, sie kommt rechtzeitig aus Darmstadt von der Enkelbetreuung

Helmut

08.11.2019 17:24

(jetzt schreibe ich weiter, zuvor ging es nicht mehr) großen Koalition, damit man die Extremen aus der Regierung heraushalten kann. - Heute Abend fahre ich mal nach Altneudorf, um dort Sky zu gucken -

Helmut

08.11.2019 17:21

Hallo Heinz,
Du schreibst ja einen anspruchsvollen Blog mit eingefügten Videos - sehr interessant! Vom Inhalt her nehme ich Bezug auf die schwierige Regierungsbildung: Hoffentlich kommt es noch zu

Willi

30.10.2019 10:15

Hallo Brabble, du scheinst ja tolle Erfahrungen zu machen. Sehr interessant ! Hoffentlich hält dein Knie durch ! VG

Heinz

30.10.2019 16:06

Du wirst lachen, es wird täglich besser - im Moment!

Heinz

30.10.2019 09:12

Rahab hat ein rotes Seil ins Fenster gehängt, damit ihrer Familie beim Einmarsch der Israeliten nichts passiert. Im Hebräischen haben die Wörter Seil und Hoffnung dieselbe Wurzel. Fortsetzung folgt

Christiane

29.10.2019 18:30

Lieber Heinz, jetzt hätte mich die Kernaussage der Predigt von Hr. Stuhlmann (zur Hure Rahab) doch sehr interessiert. Vllt kommst du ja noch kurz dazu, sie mir zu verraten!? Lieber Gruß

Hans-Peter Huber

15.10.2019 20:07

Verstehe ich das richtig? Die Sekte naturei lehnt den Staat Israel ab und lebt gleichzeitig unter seinem Schutz? Als Mathematiker dachte ich immer dass der Mensch logisch denken muss.Aber dort nicht?

Heinz

15.10.2019 20:26

Sekten, aber auch andere Leute, denken nicht unbedingt logisch

M

10.10.2019 10:23

Lieber Heinz,wir wünschen dir erlebnissvolle ,schöne Wochen.Herzliche Grüsse Marianne und Pascal

Roland Ullmann

09.10.2019 11:08

Hallo Heinz,
viel Glück und viel Spass in Israel.
Bin gespannt auf viele neue blog-Einträge
Gruss von ReTiRo

Willi Zimmermann

09.10.2019 08:39

Hi zusammen, Heinz, du kniest dich ja mächtig rein. Danke für die Infos-und gerne mehr davon. VG

Gert Scheermaier

08.10.2019 08:27

Lieber Heinz,
freue mich auf eine Folgemail. Bitte auch an Violette.Hangartner@bluewin.ch

Hans-Peter Huber

06.10.2019 19:43

Hochinteressant. Ich freue mich auf weitere Berichte