8. Okt, 2021

100 Tage neue Regierung in Israel

Mit Vergleichen soll man vorsichtig sein, führen sie doch häufig in die Irre und richten beträchtlichen Schaden an. Vergleiche Mensch-Tier führen mitunter in rassistischen Sozialdarwinismus, Vergleiche von historischen Vorgängen ergeben mitunter Muster, die in absurden Verschwörungstheorien münden. Dennoch müssen wir vergleichen, um uns Urteile bilden zu können, insbesondere „der fremde Blick“ kann das Selbstbild relativieren, die Sicht auf andere Gesellschaften kann erhellend für die eigene Situation sein.

Vor einer Woche haben wir in Deutschland einen neuen Bundestag und vermutlich auch eine neue Regierung gewählt. Schon am Wahlabend wurde in die Richtung kommentiert, dass GRÜNE und FDP nun unter sich ausmachen können, wer unter ihnen Kanzler wird. Die bisher Kleinen mucken auf und stellen die alten Gewohnheiten der „Kanzlerdemokratie“ in Frage. [1] Mehrheiten werden immer schwerer zu finden sein, das Parteienspektrum splittert sich auf. Dieser Trend ist in Israel bereits viel weiter fortgeschritten: Die neue Regierungskoalition, die vielen Unkenrufen zum Trotz die ersten 100 Tage überstanden hat, besteht aus sage und schreibe acht Parteien und nicht die stärkste Partei Jesch Atid mit Yair Lapid an der Spitze stellt den ersten Ministerpräsidenten, sondern der kleinere Partner Yamina mit Naftali Bennett. Vereinbart ist eine Rotation nach zwei Jahren. Kann das gut gehen? Bisher ist es überraschend gut gegangen. Zwingen doch unterschiedlichste Interessen zu einer anderen politischen Kultur. Alles muss mit allen verhandelt werden und was im Moment nicht verhandelbar ist, wird ausgeklammert und vorerst aufgeschoben. Wie hat das bisher funktioniert?

Stabilität der 8-er-Koalition?

Dass nicht alle Konfliktthemen aufgeschoben werden können, hat sich bereits Anfang Juli in einer komplizierten Angelegenheit gezeigt. Seit 2003 gibt es eine vorübergehende Regelung beim Einreisegesetz bezüglich Familienzusammenführung. Demnach dürfen Ehepartner von arabischen Israelis aus Westjordanland, Gaza und einigen arabischen Nachbarstaaten nicht nach Israel einreisen. Hintergrund sind zahlreiche Terroranschläge, an denen solche Ehepartner beteiligt waren. Da aber diese Regelung verfassungsrechtlich problematisch ist, muss sie jedes Jahr in der Knesset bestätigt werden. Unter Netanjahus rechter Mehrheit wurde diese Regelung jährlich problemlos durchgewunken. Nun haben der Likud und Netanjahus Lager geschlossen dagegen gestimmt. Grundsätzlich ist die 8-er-Koalition nicht in der Lage die schwierige Sachlage zu klären, also hat man sich wieder auf eine Verlängerung geeinigt. Schwierig für die linke Meretz, die generell gegen diese Regelung ist. Dennoch noch hat die Partei in den sauren Apfel gebissen und zugestimmt im Gegensatz zu zwei Abgeordneten der arabischen Ram-Partei und einem Yamina-Mann , die sich enthielten. Ergebnis 59:59. Das rettete die Regierung, aber Innenministerin Shaked (Yamina) muss nun bei derartigen Familienzusammenführungen Einzelfallprüfungen vornehmen, was verfassungsrechtlich schwierig ist. Ein äußerst komplizierter Sachverhalt, aber ein eindrückliches Beispiel wie Machtfragen sachliche Entscheidungen überlagern und wie das Netanjahu-Lager immer noch versucht, mit (fast) allen Mitteln zurückzukommen. [2]

Erstaunlich reibungslos scheint sich die Verabschiedung des neuen Haushalts zu gestalten. Seit drei Jahren ist Israel ohne regulären Haushalt, was auch der entscheidende Grund war, warum in Netanjahus Regierungszeit viermal neu gewählt werden musste. Nun passierte der Regierungsentwurf erstaunlich schnell das Parlament in erster Lesung. Die endgültige Verabschiedung ist für November vorgesehen. Das Budget umfasst etwa 230 Milliarden Euro für zwei Jahre und soll vor allem das Gesundheitssystem stärken, das durch die Bekämpfung des Corona-Virus stark getroffen wurde. [3]

Außenpolitik/Palästina

Obwohl die Palästina-Frage zunächst aus der Regierungsarbeit ausgeklammert wurde, scheint hier schon mehr auf den Weg gebracht worden zu sein als in der Regierungszeit Netanjahus. Außenminister Lapid (Yesch Atid) brachte die Zielsetzung mit „ Wirtschaft für Sicherheit“ statt „Blockade und Kriege“ auf den Punkt. Der alten Regierung fiel außer Restriktionen gegen Gaza nicht viel ein, nun ergeben mannigfache Initiativen eine neue Perspektive. Premierminister Bennett hatte sich bei seinem Antrittsbesuch beim ebenfalls noch relativ neu im Amt befindlichen Präsidenten Biden die nötige Rückendeckung verschafft. Wenig später führte ihn der Weg in den Sinai, wo er mit Ägyptens Präsident Abdel Fattah al- Sisi zusammenkam. Ägypten gilt als entscheidender Vermittler im Gaza-Konflikt und damit auch mit der Hamas, mit der Israel offiziell nicht verhandelt. Ägypten bezieht wie Israel auch von den USA Militärhilfe in Milliardenhöhe und soll aus amerikanischer Sicht jetzt offenbar liefern. Unter Netanjahu gab es zehn Jahre lang keinen Kontakt mit Ägypten auf höchster Ebene.

Da mit der Hamas nicht direkt verhandelt wird, scheint der Weg über die Stärkung der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland zu gehen. Außenminister Gantz (Blau-Weiß) sagte einen Kredit an die PA in Höhe von einer halben Milliarde Schekel zu, etwa 130 Millionen Euro. Mit der Stärkung der Wirtschaft hofft man auf eine Schwächung der Terrororganisation Hamas. Dazu passt, dass auch militärisch gegen die Hamas in der Westbank vorgegangen wird: Bei einer israelische Militäraktion sind kürzlich fünf Hamaskämpfer getötet worden [4]. Ob man mit Abbas als Partner dabei auf das richtige Pferd setzt, sei allerdings dahin gestellt. Er gilt als extrem schwach unter den Palästinensern und hat auch dieses Jahr wieder Wahlen mit eher fadenscheinigen Gründen verhindert. Auf alle Fälle zeigt das Zusammenwirken der „starken Männer“ Lapid, Bennett und Gantz Sinn und Konsistenz und hat das Potential den Stillstand aus der Ära Netanjahu zu überwinden.

Netanjahu

Bibi hat seinen Posten nicht mit Krawall geräumt wie sein Freund Trump in Washington, aber geräuschlos ging die Amtsübergabe nicht vonstatten. Lapid sprach von „unglaublicher Zerstörung und Vernachlässigung“ , welche die neue Regierung in den Ministerien vorfand und israelische Medien wie Haaretz berichteten von gezieltem Schreddern wichtiger Dokumente. [5] Auch hatte Netanjahu die Besetzung von diplomatischen Posten auf internationaler Ebene schwer vernachlässigt, ebenso wurden die Gerichte in Israel mit zu wenig Personal ausgestattet. Netanjahu setzte auf spektakuläre Erfolge wie Corona-Bekämpfung und Abraham-Abkommen, hat aber die Hausaufgaben eines seriösen Regierungschefs vernachlässigt oder einfach nicht gemacht.

Allerdings kann die neue Regierung auch an seine Erfolge anknüpfen. Israel scheint die vierte Corona-Welle mittlerweile im Griff zu haben und gilt immer noch als Vorkämpfer in der Pandemie-Bekämpfung. Auch wird der erste Jahrestag des Abraham-Abkommens in der Regel positiv gewürdigt. Die diplomatischen Beziehungen kommen in Gang, Lapid bereist die Emirate und Bahrein, US-Außenminister Blinken lädt die Teilnehmerstaaten zu einer Videokonferenz mit ersten Bilanzen. Besonders aber wachsen wissenschaftliche Kooperationen wie Pilze aus dem Boden, wichtig insbesondere auf dem Gebiet Trinkwassergewinnung , Medikamentenforschung und Bekämpfung von Cyber-Kriminalität. Auch im Bereich Kultur, Sport und Tierschutz gibt es zahlreiche neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Alles wichtige Beiträge zur Befriedung der Region, allerdings bleibt es dabei, dass Friede zwischen den wirklichen Feinden geschlossen werden muss. Dabei setzt die neue Regierung trotz ihrer gewagten Konstruktion die weiterführenden Impulse.

Liebermans Kulturkampf [6]

Lieberman (Israel Beiteinu) ist Finanzminister der neuen Regierung . Als säkularer Nationalist hat er sich vor allem dem Kampf gegen die Privilegien der Ultraorthodoxie verschrieben. Ein neues KITA-Gesetz soll ultraorthodoxe Eltern nötigen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Darum werden staatliche KITA-Zuschüsse für nicht-arbeitende Eltern von Kindern unter drei Jahren gestrichen. Sein wichtigstes Argument ist die demographische Entwicklung: Bereits jetzt stellen die Ultraorthodoxen ca. 12 % der Gesamtbevölkerung, Tendenz steigend. Lieberman beruft sich auf den großen jüdischen Gelehrten Maimonides: „Wer sich nur mit der Thora befasst und kein Handwerk betreibt und von Almosen lebt, entehrt den Ewigen.“ Auch soll das Monopol der Ultraorthoxen in Bereichen wie Heirat, Scheidung und Konversion aufgeweicht und die Rechte von liberalem und konservativem Judentum gestärkt werden.

Noch einmal „fremder Blick“

Wie eingangs schon betont, sind Vergleiche mit Vorsicht zu genießen. Dennoch bleibe ich dabei, dass Politik und Gesellschaft in Israel und Deutschland (und anderswo) ähnliche Trends zeigen. Die Demokratie muss mit der zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft klar kommen. Und sie tut es. Populistische Figuren wie Netanjahu, Trump oder auch Berlusconi haben keine Zukunft, weil Populismus gepaart mit Unfähigkeit keine nachhaltigen Lösungen bietet. Aber auch die Zeit der fähigen Leaderfiguren ist vorbei. Künftig kommt es nicht mehr auf den Kanzler oder die Kanzlerin an. Viele kleinere Parteien an vielen kleineren und größeren Orten müssen viele große Schritte tun, um den Krisen der Gegenwart entgegen zu wirken. Die größte ist die Klimakrise. In Deutschland unübersehbar in der Flutkatastrophe des Sommers, in Israel wie im ganzen Mittelmeerraum unübersehbar in den verheerenden Bränden, die zahllose Wohngebiete bedrohten. In der Nähe von Jerusalem stand beispielsweise das renommierte Hadassah-Krankenhaus mit den berühmten Chagall-Fenstern kurz vor der Räumung. Handlungsfähige Koalitionen zwischen unterschiedlichsten Parteien und Gruppierungen werden naturgemäß fragil sein, aber es gibt keine Alternative zu ihnen. Erschwerend kommt hinzu, dass zumindest in der Klimapolitik keine kurzfristigen Erfolge erkennbar sein werden. Dennoch macht der Aufbruch -zunächst mal in Israel- Hoffnung. Die 8-er-Koalition kann was. Wir behalten die Sache weiter im Blick.

[2]Vgl. L.Averbukh, Erste Zerreißprobe, Jüdische Allgemeine Nr.28/21 vom 25.Juli 2021

[1]Vgl. H.Münkeler,    Die Zeit der Kanzlerdemokratie ist vorbei, SZ vom 25.9.21. Er bezeichnet darin Angela Merkel als „die letzte ihrer Art“.

[3]Vgl Tagesschau vom 3. September 2021

[4]Haaretz, Five Palestinians killed as Israel army carries out arrests in the West Bank, 26.9.2021

[5]Jüdische Allgemeine, 24.6.2021, S. 4

[6]Vgl. Jüdische Allgemeine Nr.28/21 vom 21.Juli 2021, S.4