5. Nov, 2022

Israel hat (wieder mal) gewählt…

und auf den ersten Blick ist alles anders:

•    Netanjahu ist zurück und hat die Wahl klar gewonnen. Sein Bündnis kommt auf 64 von 61 für die Mehrheit erforderlichen Sitze. Seine Partei, der Likud, ist mit 30 Sitzen die stärkste Fraktion in der Knesset.

•    Wahlverlierer sind Jair Lapid und seine Partner. Seine Partei Jesch Atid kommt auf 23 Sitze, seine derzeitige noch Koalitionsregierung auf insgesamt 54 Sitze.

•    Die Wahlbeteiligung war mit 71,3% erstaunlich hoch. Die prognostizierte Wahlmüdigkeit der Israelis ist nicht eingetreten.

•    Der stärkste Wahlgewinner sind die „Religiösen Zionisten“ mit 15 Sitzen. Es handelt sich um ein Bündnis von zwei extrem rechten Partnern: Itamar Ben-Gvir mit seiner Partei Otzma Yehudit (Jüdische Macht) und Bezalel Smotrich mit seiner Partei „Religiöser Zionismus.

•    Rausgeflogen aus dem Parlament sind Meretz, die sozialistische Linke, und die arabische Partei Balas. Sie haben die Sperrklausel von 3,25% der Stimmen nicht geschafft. Beide waren mögliche Koalitionspartner von Lapid und haben sein Lager durch ihr Scheitern entscheidend geschwächt.

Mit dem zweiten Blick sollte man das Ergebnis zunächst im größeren Zusammenhang sehen. Die liberalen Demokratien sind weltweit unter Druck geraten, Autokraten und extreme Rechte sind auf dem Vormarsch. In Italien regiert seit kurzem die postfaschistische Giorgia Meloni, in Schweden wird wohl ein rechtes Bündnis mit den „Schwedendemokraten“ an die Macht kommen, Brasilien ist an einer zweiten Amtszeit von Bolsonaro nur knapp vorbei geschrammt und Trump droht in den USA 2024 das Weiße Haus ein zweites Mal zu übernehmen. Nun droht also auch Israel eine „Ungarisierung“. [1]In Krisenzeiten werden autoritäre, vollmundige Gestalten gerne gewählt; Israel ist keine Ausnahme. Hohe Lebenshaltungskosten, Bedrohungen durch den Iran und seine Stellvertreter in Syrien und andernorts, der zunehmende Terror im Konflikt mit den Palästinensern scheinen mir die wichtigsten Gründe zu sein, warum bei deutlich gestiegener Wahlbeteiligung ein weiterer Rechtsruck erfolgt ist. Der neue Ministerpräsident wird der alte sein, was er in seiner Zeit als Premier von 1996 bis 1999 und noch einmal von 2009 bis 2021 nicht geschafft hat, wird er mit seiner neuen Truppe wohl auch nicht hinbekommen.[2]

Allerdings hat sich „Bibi“ wieder mal aus gewiefter Taktiker erwiesen. Es ist ihm gelungen, das rechte Lager im Vorfeld so zu einigen, dass er die Klippen des israelischen Wahlrechts umschifft hat. Kleine Splitterparteien wurden in Bündnisse integriert, so dass wegen der Sperrklausel kaum Stimmen verloren gingen.Vor allem aber hat er den Theokraten Smotrich und den Rassisten Ben-Gvir zu einer gemeinsamen Liste animiert. Gleiches hat Lapid nicht geschafft. Obwohl Meretz für ein Bündnis mit Yesch Atid offen war[3], kam es nicht zustande und die Linken sind an der

3,25% -Hürde gescheitert. Auch durch die Zersplitterung des arabischen Koalitionspartners     gingen wichtige Stimmen verloren, weil nur die Ra'am den Einzug in die Knesset geschafft hat.[4] Vielleicht wäre ein Patt bei der Sitzverteilung möglich gewesen und ein angeschlagener Netanjahu hätte wohl kaum eine Regierung bilden können.

Denn angeschlagen ist Bibi trotz seines Sieges. Nach wie vor sind drei Prozesse gegen ihn anhängig wegen Korruption. Der Amtsbonus wird ihm bei der weiteren Verschleppung helfen, aber er wird sein neues altes Amt nicht aus einer Position der Stärke antreten können. Dazu hat er sich allzu sehr an die extreme Rechte gebunden, die mit 14 Sitzen ungewöhnlich stark angewachsen ist und erstaunlicherweise gerade bei vielen jungen Wählern gut ankommt. Theoretisch wäre für Netanjahu ja auch eine Koalition mit der „Nationalen Union“ von Gantz möglich, die auch für seinen Geschmack noch ausreichend stramm rechts-national wäre. Damit könnte er Bedenken und aufkommende Kritik aus dem Ausland, vor allem den USA, entgegen wirken, die seinem Bündnis mit den Extremisten mit Grauen entgegen sehen. Aber Bibi wird die Geister, die er rief, kaum noch los. Und natürlich hat er gemeinsame Interessen mit ihnen: Smotrich will Justizminister werden und als solcher das Höchste Gericht vom Parlament aus bekämpfen, wenn nicht ausschalten, um vor allem die Rechte von Arabern im Land und von den Palästinensern in den „Gebieten“ zu beschneiden. Bibi käme das zugute, denn dann könnte er mit der Mehrheit im Parlament seine eigenen Prozesse zu Fall bringen. Schlimmer noch könnte seine Abhängigkeit von Ben-Gvir werden, der wie Arye Deri, Chef eines weiteren Partners, der ultra-orthodoxen Shas-Partei, bereits vorbestraft ist. Ben-Gvir tritt für eine Annexion der besetzten Gebiete ein, will „illoyale“ Araber abschieben und fuchtelt schon mal bei einer Demonstration mit einer geladenen Waffe herum. Die Vorgängerpartei seiner Otzma Yehudit war in Israel wegen offenem Rassismus verboten, mit Bibis Hilfe ist nun auch Rassismus salon- und politikfähig geworden.

Ich denke, man wird in Israel bald der jetzigen noch amtierenden Regierung nachtrauern. Obwohl sie schon vor Monaten ihre sehr knappe Mehrheit verloren hatte, hat sie doch noch einiges zustande gebracht. Schon die Koalition von acht Parteien inklusive einer arabischen, war ein großer Erfolg, Interessengegensätze waren über ideologische Gräben hinweg pragmatisch ausgeglichen worden. Ein regulärer Haushalt ist verabschiedet worden, was Netanjahu jahrelang nicht zustande gebracht hatte. Besonders nach dem Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten von Bennet zu Lapid können sich einige Erfolge sehen lassen:

•    die Beziehungen zu den arabischen Nachbarstaaten wurden weiter verbessert

•    mit dem Libanon wurde ein Abkommen zur gemeinsamen Nutzung des umstrittenen „Pizza-Gasfelds“ im Mittelmeer geschlossen, obwohl man sich offiziell noch im Kriegszustand befindet

•    der zunehmende Terror aus den Palästinensergebieten wurde mit massiven Gegenaktionen im Westjordanland bekämpft, ob erfolgreich steht freilich noch aus

•    in Putins Krieg ist die Positionierung auf Seite der Ukraine eindeutig, ohne jedoch einen Konflikt mit Russland in Syrien zu riskieren, wo Israel ohne russische Rückendeckung die Verbündeten des Irans nicht bekämpfen könnte.

Netanjahu muss die grundlegenden Linien dieser Politik weiter führen, ob er will oder nicht, und das weiß er. Sein wichtigstes Interesse ist die eigene Macht und das eigene politische Überleben. Dafür sind ihm allerlei fragwürdige und abenteuerliche Mittel recht. Mit einem Bein steht er tief im rechtsextremen, populistischen Sumpf, mit dem anderen Bein aber steht er auch fest in der liberalen Demokratie. Wie Meloni und Le Pen Kreide fressen, wenn es um ihre Interessen in der Europapolitik geht, so muss Netanjahu für den demokratischen Westen zuverlässig bleiben. Die Frage ist wie? Er könnte das schlimmste vermeiden, wenn er Ben-Gvri und Smotrich das Innen- und das Justizministerium ausredet, um Israel als Rechtsstaat zu retten. Das wird ihm vermutlich (zunächst?!) nicht gelingen, weil es in Israel Tradition ist, Klientelpolitik zu betreiben und den Koalitionspartnern Wunschministerien zuzuschustern. Funktionieren wird es in diesem Fall wohl kaum. Der Extremismus der beiden wird weder eine akzeptable Innenpolitik hervorbringen, noch wird sie international akzeptiert werden. Netanjahu braucht vor allem die USA, auf eine Wiederwahl seines Freundes Trump wird er nicht warten können. Darum denke ich, dass Netanjahu das erste Versagen von Ben Gvir und/oder Smotrich nutzen wird, um seine Regierung umfassend umzubilden. Denn lange kann die weitere Radikalisierung in Israel und in den Palästinensergebieten nicht gut gehen. Präsident Abbas ist längst zu einer „lahmen Ente“ geworden, früher oder später wird ihn das neue Bündnis der alten radikalen Kräfte (Hamas, PLO, Islamischer Dschihad, PFLP...) aus dem Amt hieven, vielleicht sogar um den Preis eines palästinensischen Bürgerkriegs. Mit den „Religiösen Zionisten“ in der Regierung wird Netanjahu derartige Entwicklungen nicht managen können. Dann könnte doch noch die Stunde der „nationalen Allianz“ mit Benny Gantz und/oder Gideon Saar kommen. Natürlich hält die Zukunft auch andere mögliche Fallstricke bereit, um wenigstens eine „vernünftigere“ Koalition zu installieren.

Düstere Aussichten, aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass im „Heiligen Land“ ein Pulverfass hoch geht. Darum trotz alledem: allen im Lande Schalom und Saalam!

[1]So Richard C. Schneider im „Spiegel“

[2]Vgl Blogeintrag vom 7.7.2020 „Gestaute Zeit“

[3]Vgl Haaretz vom 3.11.22 Yossi Verter: Lapid’s Hara-kiri Paved the Way for Netanyahu’s Return

[4]Chadasch-Taal ist überwiegend arabisch geprägt und lässt sich keinem Lager zurechnen. Einen guten Überblick über die Parteien, die zur Wahl standen findet man hier: Diese Parteien wollen in die Knesset - Israelnetz