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Kommentare und Fragen erwünscht!
Trump und die christlichen Zionisten
Noch-Präsident Donald Trump sorgt in den Stunden und Tagen nach der Wahl am 4. November für große Unsicherheit. Zwei denkwürdige Auftritte noch während der Stimmauszählung machten offensichtlich, dass er mit demokratischen Gepflogenheiten auf dem Kriegsfuß steht. Die Auszählung solle gestoppt werden und er zum Sieger erklärt werden. Wirklich gültig sah er die Wahl wohl nur in den Bundesstaaten an, wo er in Führung lag bzw. wo er schon gewonnen hatte. Ein weiterer Tiefpunkt in der Geschichte der amerikanischen Demokratie.
Allerdings hat sich nun auch „einer der bedeutendsten amerikanischen Theologen“ (Times Magazine 2001) zu Wort gemeldet, der Trump für eine Bedrohung des Christentums in den USA hält, vergleichbar mit der Bedrohung der Kirche in Nazideutschland. Stanley Hauerwas, geb. 1940 und vielfach ausgezeichnet, wurde auch schon mal „der Karl Barth Deutschlands“ genannt. Den Vergleich mit dem Kirchenkampf in Deutschland 1934 zog er anlässlich von Trumps Agieren in der Corona-Pandemie und erinnerte an die Barmer Theologische Erklärung von 1934, in der die evangelische Kirche den Angriff der Nazis auf die Kirche zurückgewiesen hat. „Kirche muss Kirche bleiben“, war damals die griffige Parole, mit der man den Größenwahn Hitlers gekontert und ihm zumindest im religiösen Bereich die Gefolgschaft verweigert hat.
Hauerwas sieht eine Parallele zu Trumps Aufruf vom 22. Mai 2020 an Christen, Juden und Muslime doch in die Kirchen, Synagogen und Moscheen zu gehen und dort zu beten. Damit setzte er sich über Verbote zuständiger Behörden hinweg und unterwanderte die Richtlinien der Religionsgemeinschaften zum Schutz vor Ansteckungen. Tatsächlich haben ihm viele vertraut, mehr als jeder anderen Autorität, und haben Leib und Leben von sich selbst und Anderen riskiert. Damit habe sich Trump zum Herrn über Leben und Tod aufgespielt und sich über die religiösen Autoritäten gestellt. Christen können dazu nicht schweigen, meint Hauerwas. Trump kenne nur sich selbst, er stehe letztlich für eine „apokalyptische“ Politik des Todes. Christlicher Glaube aber stehe für das Leben und für den Widerstand gegen den Tod in allen Lebensbereichen. Daher müsse man gerade als Christ Trump widerstehen. In der Theologie nennt man das „status confessionis“- Bekenntnisnotstand. Mit anderen Worten: Wer Trump folgt, macht sich zum Gegner Gottes. Wer Christus folgt, muss sich ihm widersetzen. [1]
Auf diesem Hintergrund ist das Wahlverhalten von einigen religiösen Gruppen erstaunlich: Juden wählten zu ca. 77% Biden, zu ca. 21% Trump (3% weniger als 2016), weiße evangelikale Christen wählten zu ca. 78% Trump [2]. Zwar bröckelt nach neueren Untersuchungen die „evangelikale Front“ für Trump, jedoch ist davon auszugehen, dass die Evangelikalen auch in Zukunft eine starke Strömung in den USA bilden werden [3]. Dies hat mehrere Gründe:
• der sogenannten Geschichtsnarrativ dieser Gruppierung besagt, dass Gott den Vorfahren das Land gegeben hat und es aufgrund seiner Verheißung auch „God`s Own Country“ bleiben wird
• das sogenannte Wohlstandsevangelium, wonach wirtschaftlicher Erfolg ein Zeichen von Gottes Erwählung ist
• Trumps Kampf gegen Abtreibung, Homosexualität, den gottlosen Kommunismus und anderen den Evangelikalen wichtigen Themen
• eine recht eigenwillige Interpretation von Trumps „Gottlosigkeit“. Über seine moralischen Qualitäten macht man sich kaum Illusionen und um seine Glaubwürdigkeit ist es auch in diesen Kreisen schlecht bestellt. Laut Bibel weiß man aber, dass Gott auch Ungläubige zum Heil seines Volkes erwählen kann, wie den Perserkönig Kyros (Jes 45,1) und dass auch Ehebrecher und Mörder wie König David Träger der Verheißung bleiben (vgl z. B. 2.Sam 11f).
In diesen Zusammenhang gehört auch die glühende Liebe der Evangelikalen zu Israel und die Unterstützung von Trumps und Netanjahus Politik. Theologischer Hintergrund ist die Endzeiterwartung und die Überzeugung, die Wiederkunft des Messias stehe unmittelbar bevor. Voraussetzung dafür sei aber die Rückkehr der Juden ins Heilige Land, was mit der Staatsgründung Israels großartig begonnen hat, aber noch nicht vollendet ist. Die biblischen Gebiete Judäa und Samaria sind noch nicht vollständig in jüdischer Hand [4]. Daher zum Beispiel die Unterstützung von Trumps „Jahrhundertfriedensplan“, der ja die Annexion dieser von Palästinensern bewohnten Gebiete vorsieht.
Der Evangelikalismus (vom englischen evangelicalism) ist eine theologische Richtung innerhalb des Protestantismus, die auf den deutschen Pietismus, den englischen Methodismus und die Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts zurückgeht. Evangelikale machen eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus zur Grundlage ihres Christentums; persönliche Willensentscheidungen wie auch individuelle Erweckungs- und Bekehrungserlebnisse sind für eine solche Beziehung von Bedeutung. Zentral ist ebenso die Berufung auf die (zumeist als irrtumsfrei und unumstößlich angesehene) Autorität der Bibel.[...] (Wikipedia)
Konflikte, Blutvergießen und Kriege sind dafür nicht nur hinzunehmen, sondern geradezu Teil von Gottes Heilsplan. Harmageddon - häufig mit Megiddo in Nordisrael identifiziert - wird irdischer Endpunkt dieses Showdowns sein. Die große Endzeitschlacht darf gerne auch mit Atomwaffen geführt werden, ist doch die Vernichtung der Feinde Israels ebenfalls eine Bedingung der Wiederkunft Christi. Schließlich werden auch die Juden in Jesus den wahren Messias erkennen und zum Heil gelangen.
Es gibt so etwas wie eine Internationale der christlichen Zionisten. Letztes Jahr bin ich Zeuge des Jerusalemtags während des Laubhüttenfests geworden: Ein bunter fröhlicher Marsch von Menschen aus aller Herren Länder durch die Stadt mit Livekonzerten etlicher Bands an den schönsten Plätzen [5]. Organisiert wird er von der „Internationalen Christlichen Botschaft“, die Sitz und Kirche ganz in der Nähe des Jaffators hat. Die Freundschaft und Solidarität zu Israel ist offensichtlich, über 100.000 Juden hat man nach eigenen Angaben bei der Einwanderung nach Israel unterstützt. Auch deutsche evangelikale Gruppen engagieren sich finanziell und publizistisch (z.B. „Israelnachrichten“, „Israelnetz“). In Israel wird das gerne gesehen, laut Netanjahu sind die christlichen Zionisten die besten Freunde Israels. Aber ist das wirklich so?
Zionismus (von Zion, dem Namen des Tempelberges in Jerusalem und Bezeichnung für den Wohnsitz JHWHs, des Gottes der Israeliten) bezeichnet eine Nationalbewegung und nationalistische Ideologie, die auf einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zielt, diesen bewahren und rechtfertigen will. [...] (Wikipedia)
Als Christlichen Zionismus beschreibt man die vor allem im evangelikalen Christentum verbreitete Ansicht, dass Christen den Staat Israel aus theologischen Gründen unterstützen müssen. [...] (Wikipedia)
Als Antisemitismus werden heute alle Formen von Judenhass, pauschaler Judenfeindschaft, Judenfeindlichkeit oder Judenverfolgung bezeichnet. [...] (Wikipedia)
Ich halte den christlichen Zionismus für ein gefährliches Spiel:
• er ist latent antisemitisch
• er ist politisch gefährlich, weil er eine aggressive Landnahmepolitik unterstützt und einem substantiellen Frieden mit den Palästinensern im Wege steht
• und er widerspricht dem christlichen Glauben, womit christliche Zionisten ihre eigene Identität in Frage stellen: Wenn Politik und Geschichte als Manövriermasse Gottes gesehen werden, dann werden Menschen als Mittel zum Zweck geopfert. Die Feinde sind benannt und ihr Untergang wird bejaht.
Der christliche Glaube steht für das Gegenteil: die Opfer sind ein für allemal abgeschafft. Gott hat die Welt und die Menschen versöhnt, das letzte Opfer ist Christus. Das ist der Sinn des „Heilsplanes“ und bis zur Wiederkunft gilt, dass Christen nach einer Ethik der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit und des Friedens handeln sollen. Es gibt kein Recht mehr, Opfer zu bringen oder in Kauf zu nehmen. Wer Gott unterstellt, dass er gegen seine eigenen Gebote handelt und „das Böse“ als Mittel einsetzt, um seinen Plan zu erfüllen, verkauft die Seele des jüdisch-christlichen Glaubens. Jesus betet „erlöse uns von dem Bösen“, nicht „erlöse uns durch das Böse“! Ich halte die eingangs erwähnte theologische Warnung vor Trumps Ideologie und die Parallele zum Kirchenkampf für denkwürdig. Denkwürdig vor allem im Blick auf eigene Überzeugungen und den Kern des christlichen Glaubens. Wir sollten wissen, was wir glauben, wofür wir eintreten und was wir tun! [6]
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[1] vgl. dazu Stanley Hauerwas, Apokalyptisches Christentum, Demokratie und die Pandemie. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Marco Hofheinz und Hans G. Ulrich. Ev. Theol. 80. Jg, Heft 5, S. 392-400, Gütersloh 2020
[2] wobei das Wahlverhalten der ultrareligiösen Juden abweicht und sich etwa umgekehrt darstellt. Auch ist die Unterstützung für Trump bei evangelikalen Latinos und Schwarzen bedeutend geringer. In Israel wiederum befürworteten ca. 70% die Wiederwahl Trumps. Vgl.
Jüdische Allgemeine, 5. November 2020, S. 2 D.Killy „Ausgang ungewiss“
[3] K. Ridderbusch, Evangelikale Front bröckelt, Deutschlandfunk 29.10.2020
[4] hier überschneidet sich die Ideologie mit den religiösen Zionisten in Israel, einem der „vier Stämme“, vgl. Blogeintrag vom 2. November 2020 „Kulturkampf in Corona-Zeiten“
[5] vgl. im Blog „Unterwegs“ 4. Nach den Feiertagen
[6] Sehr empfehlenswert, wenn auch etwas älter ist zum Ganzen: M. Kloke, Christliche Zionisten - Eine kritische Darstellung, Compass-Infodienst Online Extra Nr.112, Februar 2010
Kulturkampf in Corona-Zeiten
Während sich Deutschland für den teilweisen Lockdown ab Anfang November rüstet, scheint Israel die zweite Welle hinter sich zu haben und die Diskussionen sind entbrannt, wie man die Fehler der schnellen Öffnung nach der ersten Welle vermeiden will. Im Fokus sind nach wie vor die problematischen Gruppen, die das Eigeninteresse über das Allgemeinwohl stellen und sich eine eigene Agenda geben. In Israel sind das hauptsächlich die Haredim, bei uns meist ultraorthodox genannt. Sie machen etwa 12% der Bevölkerung aus, stellen aber etwa 50% der Infizierten. Die Gründe sind unschwer nachzuvollziehen: Hunderte von Schulen der Strengreligiösen blieben geöffnet, Gottesdienste auf engem Raum mit hohen Besucherzahlen waren während der drei-wöchigen Feiertagsperiode von Rosch Haschana bis Simchat Tora die Regel. Die Gründe, warum die Regierung die Regeln in dieser Community nicht durchsetzen konnte, liegen auf der Hand: die ultraorthodoxen Parteien Shas und Vereinigtes Tora-Judentum sind Teil der Regierungskoalition. Einen Konflikt mit ihnen und der Gemeinschaft , die sie repräsentieren, kann sich Netanjahu nicht leisten und so wird mit zweierlei Maß gemessen. Während die säkularen Schulen schließen mussten und nur langsam und teilweise wieder geöffnet werden, positioniert sich ein Großteil der Haredim außerhalb der gesellschaftlichen Regeln und folgt den Vorgaben ihrer religiösen Autoritäten. Eine weitverbreitete Überzeugung lautet, dass dort wo Tora studiert wird, das Virus nicht sein kann und deswegen keine Ansteckungsgefahr besteht [1]. Hinzu kommt, dass das Durchschnittsalter der Ultraorthodoxen recht niedrig ist - 97% sind unter 65 Jahre alt- und daher die Verläufe der Infektionen in der Regel glimpflich sind.
Der seit langem schwelende Konflikt zwischen Frommen und Säkularen ist wieder voll ausgebrochen. „Die Minderheit tötet die Mehrheit“ schimpfte kürzlich ein frustrierter Klinikdirektor in Tel Aviv und löste große Empörung, aber auch viel Zustimmung in den sozialen Netzwerken aus. Jahrelang hätten die Haredim nur genommen und nie gegeben, jetzt in der Notlage des Landes verweigerten sie nicht nur die Solidarität , sondern werden gar zur Gefahr der Steuerzahler, auf deren Kosten sie seit Gründung des Staates leben. In der Tat genießen die Ultraorthodoxen eine Reihe von Privilegien:
• trotz einer Änderung der Rechtslage sind sie immer noch weitgehend vom Militärdienst befreit
• etwa 50% der erwachsenen Männer gehen aufgrund des Tora-Studiums keiner Erwerbsarbeit nach und werden vom Staat unterstützt
• das Personenstandsrecht ist religiös geregelt; so gibt es keine Zivilehen, sondern nur religiöse Eheschließungen, die der Staat anerkennt
• die Schabbatregelungen verbieten öffentlichen Verkehr an Feiertagen
• die Jeshiwas, religiöse Schulen, werden weitgehend vom Staat finanziert, folgen aber eigenen Lehrplänen.
Die israelische Gesellschaft erscheint heute stark fragmentiert. Zur Vereinfachung spricht man von den „vier Stämmen“, die an Zahl und Einfluss dominieren: die säkularen Zionisten, die religiösen Zionisten, die israelischen Araber und eben die Ultraorthodoxen/Haredim. Die Haredim sind keine Zionisten! Das bedeutet, der Staat Israel ist ihnen egal, manche lehnen ihn sogar dezidiert ab. Grund ist die grundsätzlich antimoderne Einstellung, man orientiert sich an Tora und Halacha (5 Bücher Mose und die Auslegung) für das alltägliche Leben. Der Staat kann dabei nützlich sein, hat aber an sich, auch in seinem jüdischen Charakter, keinen eigenen Wert. Genau darum aber, um den jüdischen Charakter des Staates Israel, kämpfen und streiten sich religiöse und säkulare Zionisten.
In den Turbulenzen der Staatsgründung war eindeutig der säkulare Zionismus dominant, repräsentiert von der charismatischen Persönlichkeit David Ben Gurions. Die Ultraorthodoxen erschienen damals als kleines, lästiges Phänomen am Rande der Gesellschaft. Ben Gurion hat im Grunde damals ihre Privilegien von heute festgelegt. Um sich Ärger zu ersparen hat sich der junge Staat als großzügig erwiesen. Ohnehin ging man davon aus, dass die Gesellschaft immer unreligiöser werde und sich das Problem irgendwann von selbst erledigen würde. Hat es aber nicht: von ca. 4% der Bevölkerung hat sich der Anteil der Haredim auf gegenwärtig ca. 12% gesteigert, Prognosen für das Jahr 2040 gehen von einem Anteil von ca. 20% aus. Die Spannungen steigen gerade auch in Wohngegenden, die einen starken Zuzug von Haredim verzeichnen und immer mehr ihren Lebensstil und Charakter annehmen. Der aktuelle „Kulturkampf“ [2] in der Corona-Krise ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern ist Ausdruck verschärfter Spannungen in der israelischen Gesellschaft [3].
Allerdings muss klar sein, dass diese Entwicklungen nicht das Recht der Haredim in Frage stellen dürfen, ultraorthodox zu sein und zu leben. Natan Sznaider weist auf eine problematische Tendenz in der beliebten Miniserie „Unorthodox“ hin, die seit März 2020 auf Netflix zu sehen ist [4]. Die Berliner Regisseurin Maria Schrader erhielt für die vier Folgen den Emmy Award für die beste Regiearbeit. Erzählt wird darin die Emanzipationsgeschichte der 19-jährigen Esty, die sich aus der ultraorthodoxen Gemeinschaft der Satmarer in New York löst und aus Ehe und Gemeinschaft nach Berlin flieht. Die Schlüsselszene ist die „Wiedertaufe“ im Wannsee, wo sie ihre Perücke ins Wasser wirft und mit gekreuzten Armen im See schwimmt. Nun ist sie „wiedergeboren“ in der Freiheit Berlins, kann sexuell selbstbestimmt leben und ihren eigenen Lebensentwurf verwirklichen [5]. Esty ist im wirklichen Leben Deborah Feldmann, allerdings mit einigen Zugeständnissen an den Geschmack (nicht nur des deutschen) Publikums. In Feldmans beiden autobiographischen Romanen „Unorthodox“ und „Überbitten“ ist der Bruch mit ihrer Vergangenheit bei weitem subtiler und „gerechter“ dargestellt. Für mich am eindrücklichsten war, wie sie ihr Verhältnis zur Großmutter beschreibt. An keiner Stelle wird in Zweifel gezogen, wie gerade die ultraorthodoxe Gemeinschaft der Großmutter half, nach den Schrecken des Holocaust und der Flucht aus dem Europa der Nazis überhaupt weiter leben zu können und eine neue - wenn auch beschädigte - Heimat bei den Satmarern in New York zu finden. Verständnis, Dankbarkeit und Liebe zur Großmutter sind im gesamten Ablöseprozess Feldmans präsent, der in den Romanen noch weit abenteuerlicher und verwickelter ist als in der Netflix-Serie.
Auch in der Postmoderne darf Religionsfreiheit nicht in Frage gestellt werden. Überzeugungen, Lebensweisen und Auftreten mögen skurril erscheinen, biographisch haben sie allemal ihr Recht. Natürlich endet dieses Recht wie jede Freiheit an der Nasenspitze des Anderen. Für Übergriffe ist der Rechtsstaat zuständig, so soll es in jeder demokratischen Gesellschaft bleiben.
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[1] Christlicher Hochmut gegenüber dieser Einstellung ist nicht angebracht. In manchen christlichen Gemeinden wird angenommen, dass die Gegenwart des Heiligen Geistes im Gottesdienst Ansteckungen unmöglich mache bzw. bei der heiligen Handlung des Abendmahls keine Infektionen erfolgen können. Auch Donald Trumps Aufruf an Christen, Muslime und Juden mitten in der Corona-Krise am 22. Mai 2020 doch in in die Gottesdienst und Gotteshäuser zu gehen, scheint von diesem Irrglauben geprägt zu sein.
[2] Der deutsche Ausdruck „Kulturkampf“ ist in Israel durchaus gebräuchlich. Ursprünglich ist damit der Konflikt Bismarcks und des Kaiserreichs mit der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert gemein. Hauptstreitpunkt war die Einführung der Zivilehe. Seitdem ist man verheiratet, wenn man auf dem Standesamt war. Die kath. Kirche wollte allein die kirchliche Trauung als gültig ansehen, so wie es in Israel bis heute prinzipiell geregelt ist.
[3] vgl. ausführlich P. Lintl, Die Charedim als Herausforderung für den jüdischen Staat. Der Kulturkampf um die Identität Israels, SWP 2020
[4] N. Sznaider, Antisemitismus zwischen Schwertern und Pflugscharen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 22.Juni 2020, S.15 ff [5] a.a.O. S. 18
Ich halte den christlichen Zionismus für ein gefährliches Spiel:
• er ist latent antisemitisch
• er ist politisch gefährlich, weil er eine aggressive Landnahmepolitik unterstützt und einem substantiellen Frieden mit den Palästinensern im Wege steht
• und er widerspricht dem christlichen Glauben, womit christliche Zionisten ihre eigene Identität in Frage stellen:
Wenn Politik und Geschichte als Manövriermasse Gottes gesehen werden, dann werden Menschen als Mittel zum Zweck geopfert. Die Feinde sind benannt und ihr Untergang wird bejaht.
Zionismus (von Zion, dem Namen des Tempelberges in Jerusalem und Bezeichnung für den Wohnsitz JHWHs, des Gottes der Israeliten) bezeichnet eine Nationalbewegung und nationalistische Ideologie, die auf einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zielt, diesen bewahren und rechtfertigen will. [...] (Wikipedia)
Als Christlichen Zionismus beschreibt man die vor allem im evangelikalen Christentum verbreitete Ansicht, dass Christen den Staat Israel aus theologischen Gründen unterstützen müssen. [...] (Wikipedia)
Als Antisemitismus werden heute alle Formen von Judenhass, pauschaler Judenfeindschaft, Judenfeindlichkeit oder Judenverfolgung bezeichnet. [...] (Wikipedia)
Guten Rutsch und Schana Towa
Traditionelle Quizfrage in der letzten Schulstunde vor den Weihnachtsferien: Warum wünscht man sich zu Silvester „Guten Rutsch“?
a) In der Neujahrsnacht gab es bei den alten Germanen ein traditionelles Schlittenrennen und man hat den Teilnehmern mit diesem Zuruf Glück gewünscht
b) Christen haben jüdischen Nachbarn den Spruch abgelauscht, welche sich gegenseitig „Gud Rosch“ gewünscht haben
c) Zu Silvester gab es immer ein Fischessen und man hat sich gegenseitig gewünscht, dass nichts im Hals stecken bleiben möge
Nach meiner Erinnerung wurden mehrheitlich die Antworten a) und c) gewählt. Allerdings erhöhte sich die Trefferquote in den folgenden Jahren, weil die gleichen Klassen alle Jahre wieder das Quiz zu ertragen hatten.
„Wie es sich christelt, so jüdelt es!“ Vermischungen in Sprache und Gebräuchen gab es in guten Zeiten des christlich-jüdischen Zusammenlebens in Deutschland häufig. In der Regel sind wir heute auf Judenverfolgung und Holocaust fixiert, wenn wir an jüdische Geschichte denken. Vergangene Woche war mit dem 70-jährigen Bestehen des „Zentralrats der Juden in Deutschland“ Anlass, auch positiv auf die jüngere Vergangenheit zurück zu blicken. Jüdisches Leben hat sich in Deutschland längst wieder etabliert. Parteien, Verbände und Kommunen haben der jüdischen Gemeinschaft zu diesem Jubiläum gratuliert, wie auch jetzt wieder zum Beginn des neuen jüdischen Jahres. Selbstverständlich ist diese Entwicklung nicht. Im Gründungsjahr des Zentralrats 1950 gab es durchaus, vielleicht sogar mehrheitlich, die Position, dass nach den Naziverbrechen jüdisches Leben in Deutschland für alle Zeiten unmöglich sein wird. Gott sei Dank hat sich diese Meinung nicht durchgesetzt und mit Berlin haben wir sogar ein Beispiel, wie attraktiv das Leben hier für viele junge Israelis geworden ist.
Allerdings begann das vergangene jüdische Jahr 5780 im Oktober mit einer Katastrophe und hat nachhaltige Verunsicherung bewirkt. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle brachte nicht nur alt-neuen Antisemitismus ins Bewusstsein, sondern zeigte auch die Unfähigkeit und mangelnde Sensibilität staatlicher Institutionen, jüdisches Leben ausreichend zu schützen. Eine führende Politikerin sprach von einem „Warnschuss für die Gesellschaft“, dass die Schüsse schon tödlich waren, hatte sie anscheinend nicht mitbekommen. Seitdem werden Juden in Deutschland in Talkshows und Interviews gerne gefragt, wie weit denn die Koffer schon gepackt seien, wie sehr man sich mit dem Gedanken an Auswanderung beschäftige. Und die Antworten sind durchaus ambivalent. Richard C. Schneider beispielsweise, früherer Korrespondent der ARD in Israel, hat seinen Zorn über den laxen Umgang mit Antisemitismus hierzulande nicht zurück gehalten und hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass man sich in Deutschland nicht sicher fühlen kann, wenn man als Jude öffentlich sichtbar ist.
Sehr zwiespältig und unklar erscheint zu Beginn des neuen Jahres auch die Lage in Israel. Mit den Feiertagen beginnt der zweite Corona-Lockdown und wird für die gesamte Dauer von drei Wochen andauern. Die Zahlen sind alarmierend: an einem Tag wurden 5523 Neuansteckungen registriert, jeder 10. Test ist positiv, inzwischen sind 1147 Menschen an den Folgen von Covid-19 gestorben. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 20 Prozent, die Menschen werden immer weiter verunsichert und sind wütend. Nach dem konsequenten Lockdown über die Passahfeiertage und sehr geringen Infektionszahlen wähnte man sich sogar weltweit als Vorbild in der Pandemiebekämpfung. Dann aber folgte eine sehr schnelle und oft leichtfertige Öffnung und nun wieder die rigiden Maßnahmen.
Der Schlingerkurs der Regierung Netanjahu ist auch der abenteuerlichen Konstruktion seiner Regierung geschuldet. In den ultraorthodoxen Wohngebieten sind die Infektionszahlen besonders hoch, aber Eindämmungsstrategien scheitern am Widerstand der religiösen Koalitionspartner. So wird der Lockdown wieder flächenmäßig ausgerufen und löst Unverständnis und Widerstand aus bis hin zu Aufrufen, sich anarchisch zu verhalten, da auch die Politik nichts anderes vorgibt.
Netanjahu freilich versucht seine prekäre Situation weiterhin mit friedenspolitischen Erfolgen zu überspielen. Vergangene Woche wurde in Washington das Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten unterzeichnet, dem sich kurzfristig auch Bahrein angeschlossen hat. Man spricht von einer neuen Ära der arabisch-israelischen Beziehungen und setzt vor allem auf wirtschaftliche Beziehungen, die das Verhältnis langfristig normalisieren sollen. Trump und Netanjahu brauchen diesen Erfolg vor allem aus innenpolitischen Gründen, der eine will im November wieder gewählt werden, der andere möchte sich trotz krimineller Verstrickungen unabkömmlich machen. Allerdings fehlte der Unterzeichnung der ganz große Glamour, denn Kronprinz Scheich Mohammed bin Zayed blieb der Veranstaltung ebenso fern wie der erste König von Bahrein Scheich Hamad bin Isa Al Chalifa.
Abgesehen von den politischen Interessen Trumps und Netanjahus könnte das Abkommen vielleicht doch einen wichtigen Impuls geben für die seit Jahren festgefahrenen palästinensisch-israelischen Beziehungen. Zwar ist den palästinensischen Repräsentanten zu dem Abkommen bisher nicht viel mehr eingefallen als Verrat zu schreien (Fatah) und ein paar Raketen auf Israel abzuschießen (Hamas), aber es wird ihnen vermutlich zukünftig schwer fallen, sich von der internationalen Gemeinschaft, insbesondere Europa und den reichen Golfstaaten, aushalten zu lassen. Bisher verweigern sie sich allen konkreten Schritten zu einer Konfliktlösung, womit sie in ihren privilegierten Positionen gut leben können. Falls aber tatsächlich Saudi- Arabien sich offiziell der Initiative anschließen sollte, ohne dessen Unterstützung der Verstoß von VAE und Bahrein ohnehin nicht möglich gewesen wäre, dürfte es mit der Komfortzone von Fatah und Hamas endgültig vorbei sein. Auch könnte sich das Abkommen positiv auf das Klima in der UN auswirken. Die einseitigen reflexartigen Verurteilungen Israels könnten bald der Vergangenheit angehören, wenn die arabische Welt sich weiter auf Israel zubewegt.
Rosch Haschana 5781- wünschen wir der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ein ruhigeres Jahr und Fortschritte in der Eindämmung des Antisemitismus!
Für Israel hieße Mazel Tow aus meiner Sicht Sieg über Corona, wirksame gewaltfreie Schritte zu mehr Frieden mit den Palästinensern und nicht nur entfernteren Arabern und alles am besten künftig ohne Netanjahu. Schana Towa!
Die Symbole zu Rosch Haschana
Heute (20.9.2020) ist in Mannheim am Neckarufer TASCHLICH, d. h. die Taschen werden symbolisch von allen Krümeln entleert und in ein fließendes Gewässer geworfen als Zeichen, dass die schlechten Taten und Sünden der Menschen „den Bach runter gehen sollen.“
Hier noch ein Link:
Drascha von Kantor Amnon Seelig zu RoshHaShana 5780/5781auf youtube
Abkürzungen zur "Wahrheit"
Neulich war ich an einem Sonntagnachmittag unterwegs zum ersten Konzert "nach Corona" ins Jüdische Gemeindezentrum in Mannheim. Dabei musste ich den Marktplatz queren, wo sich etwa 50 Menschen angesammelt hatten, um einem Redner von „Querdenken“ zu lauschen. Sie taten das sehr konzentriert und andächtig, denn der Mann sprach gewähltes Hochdeutsch. Ich bekam etwa 30 Sekunden seiner Ansprache ungewollt mit. Er redete von Kant und der Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sofort danach war er bei einem Katalog von etwa fünf Kriterien, wie man die Wahrheit über Corona verstehen könnte. In 30 Sekunden schaffte ich es, an diesem völligen Quatsch vorbei zu kommen, die gläubigen Gesichter der Zuhörer aber gehen mir bis heute nicht aus dem Kopf. Kant war wohl das Zauberwort, über ihn ist es nicht weit zur „Wahrheit“ an sich und über Corona im Speziellen.
Als ich ein paar Tage später das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Omri Boehms vielgepriesenen Buch „Israel - eine Utopie“ las, hatte ich eine Art Déjà-vu. Auch Boehm fängt mit Kant an, um Jürgen Habermas in den Senkel zu stellen, der sich anlässlich eines Israel-Besuchs 2012 nicht über die Politik der israelischen Regierung äußern wollte und dies damit begründete, dass dies nicht „Sache eines privaten deutschen Bürgers seiner Generation sei“ [1]. Habermas begehe mit dieser Äußerung Verrat an Aufklärung, Universalismus, Intellektualität und was weiß ich noch. Besser sei da schon Grass, der noch mit letzter Tinte die Wahrheit über Israel zu sagen versuchte. Die Wahrheit sei schließlich die Sache der Intellektuellen, die Wahrheit ist universal und deshalb darf man sich auch als Deutscher nicht der Wahrheit über Israel verweigern und muss sie öffentlich aussprechen.
Das Anliegen von Boehm ist klar: Er will die deutschen Intellektuellen mit ins Boot für den Boykott Israels (BDS) holen. Auch auf die Linksliberalen zielt er in seinem „zornigen Postskriptum“ [2]. Sie mögen doch auf die müßige Diskussion über den Antisemitismus verzichten [3] und die Wahrheit über Israel sagen wie alle vernünftige Welt und sich bei den Boykotteuren einreihen.
Kant selbst hat es sich mit der Wahrheit meines Wissen nicht ganz so einfach gemacht: Die Frage: „Was kann ich wissen?“, ist allein schon aufgrund unseres beschränkten menschlichen Erkenntnisvermögens nicht so leicht zu beantworten. Und vor allem ist sie zu unterscheiden von der Frage: „Was soll ich tun?“. Reine und praktische Vernunft sind nicht dasselbe, schnelle Abkürzungen auf der Suche nach richtigen und guten Antworten sind eher nicht empfehlenswert. Ich denke, das empfiehlt sich auch im Blick auf Israel. Wie den Covidioten geht auch politischen Besserwissern und Fanatikern jeder Couleur auf dem Weg zur „Wahrheit“ schnell mal der moralische Gaul durch und sie landen unversehens im Dickicht von Halbwahrheiten, Irrungen und Wirrungen. Kant jedenfalls sollte man da raus halten, wobei natürlich schön wäre zu wissen, was er über Corona und Israel zu sagen hätte.
Boehm beendet sein Vorwort der Empfehlung an die „Habermas` Generation“, sie solle sich freimütig über Israel äußern: „Das ist es, was ich als Deutscher zu sagen habe.“ [4]. Da wird es dann vollends schräg. Hatte er doch Habermas zuvor belehrt, dass die Wahrheit gesagt werden müsse, unabhängig davon, ob jemand Deutscher oder sonst was sei, Hauptsache intellektuell. Nun soll er die Wahrheit also doch gerade als Deutscher sagen. Das verstehe, wer will. Ich jedenfalls war geneigt, auf die Lektüre des Buchs zu verzichten. Andererseits hatte ich die 20 Euro schon investiert, hatte den Lobgesängen auf das Buch in der SZ (Föderl-Schmid) und ZEIT (Brumlik) geglaubt und hatte ja auch im letzten Blog versprochen, über diese Utopie zu berichten.
Und siehe da, es hat sich doch gelohnt. Für mich vor allem, weil Boehm ein Phänomen anspricht und analysiert, das mich schon lange irritiert. Es gibt eine rechtsradikale Internationale, die mit Netanjahu kokettiert und umgekehrt. Sichtbar wird das, wenn Figuren wie Orban, Salvini, Strache, Bolsonaro usw. auf Staatsbesuchen in Israel auch Yad Vashem besuchen, betroffenes Gedenken heucheln und wieder zu Hause ihre antisemitischen Süppchen kochen. Netanjahu scheint das nicht zu stören, im Gegenteil versteht er sich doch im politischen Ansatz hervorragend mit diesen Herren. [5]
Für Boehm macht das ideologisch Sinn: Für die Rechtsradikalen- und da ist die AfD jetzt wieder im Boot und man darf getrost auch den derzeitigen Präsidenten der USA dazu zählen - ist die rechte Politik Netanjahus vorbildlich. Sie trennt zwischen jüdischen Interessen und den Interessen anderer Bewohner des Landes. Israel ist primär ein jüdischer Staat und dann auch eine Demokratie. Weil aber jüdisch das primäre Kennzeichen ist, haben Nicht-Juden zwangsläufig mindere Rechte. Dieser Logik folgend sind Ungleichheiten konsequent, das nennt Boehm - wie auch seine internationalen BDS-Freunde - Apartheid. Schließlich sind aufgrund dieser Logik auch Enteignungen und Annexionen zu rechtfertigen. Das gefällt der internationalen Rechten, wollen sie doch auch ein weißes Amerika, ein Deutschland für die Deutschen, keine Juden in Ungarn oder Flüchtlinge lieber im Meer als im eigenen Land.
Boehm sieht in diesen Zusammenhängen das Dilemma der liberalen bzw. linksliberalen Israelfreunde, zu denen auch ich mich getrost zählen darf. Kritik an dieser falschen Politik wollen wir uns angeblich nicht erlauben, weil wir uns damit dem Verdacht des Antisemitismus aussetzen. Die aus dem Boden sprießenden Antisemitismus-Beauftragten in Bund und Ländern setzten Israelkritik mit Antisemitismus gleich. Das wollen wir uns nicht anhängen lassen und so fehlt der israelkritischen Internationalen ein wichtiger Bundesgenosse. [6]
Ich stimme Boehm im Blick auf die rechte Internationale zu. Einige Paradoxien werden so verständlich. Ärgerlich finde ich wiederum seinen moralistischen Short Cut, als gäbe es nur eine Wahrheit und als sähe die Welt aus einer universalistischen Perspektive gleich aus. Die Einbildung, die Wahrheit zu kennen, ist die falsche Bildung. Zum Diskurs gehört auch die Fähigkeit, sich verständlich zu machen. In Israel ist ihm das wohl noch nicht gelungen, jedenfalls liegt sein Buch dort in hebräischer Sprache (noch) nicht vor. Und zum Streit um die Wahrheit gehört auch, anderen ein Urteil zuzutrauen. So einfach ist die Sache mit dem Antisemitismus nicht. Auch bei den linken Freunden habe ich oft den Eindruck, dass sie den Juden den Holocaust immer noch nicht verziehen haben. Und tatsächlich ist Israel gerade für Linke, aber auch Liberale, Projektionsfläche für allerlei Widersprüche, denen man sich im alltäglichen Leben, aber auch in den politischen Verwicklungen ausgeliefert sieht. Habermas hat Recht: Es ist tatsächlich ein Unterschied, ob sich ein Israeli, ein Palästinenser, ein Brite, ein Deutscher oder ein Kameruner zu Israel bzw. Antisemitismus äußert.
Habermas geht mit Kant: Die Wahrheit gibt es nicht, zumindest kennen wir sie nicht. Und wer sich über die eigenen Motive nicht im Klaren ist oder sich aufgrund der Unübersichtlichkeit der Welt nicht unmissverständlich äußern kann, sollte lieber die Klappe halten.
Fortsetzung zu Boehm, Israel - eine Utopie: "Republik Haifa"
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[1] Omri Boehm, Israel - eine Utopie, Berlin 2020, S. 11. Boehm ist Israeli, 1979 in Haifa geboren, Professor für Philosophie an der New School for Social Research, New York. Seine Eltern sind deutscher Abstammung, Kant hat er bei Studienaufenthalten in München studiert.
[2] a.a.O. S.231ff
[3] Er sagt es nicht so, aber er meint wohl die hässliche Kröte des Antisemitismus muss man als denkender Mensch heute einfach schlucken. Die BDS-Kampagne kann es damit ja auch nicht so genau nehmen.
[4] S. 4, im Original im Schriftbild herausgehoben!
[5] Immerhin hat es die AfD noch nicht an die nationale Gedenkstätte des Holocaust geschafft. Gute deutsche Diplomatie weiß das zu verhindern und für Netanjahu ist sie wohl noch nicht mächtig und interessant genug.
[6] Boehm sagt es so nicht, aber ich bilde mir ein, es manchmal heraus zu hören: Da wäre doch auch im Blick auf Merkel was zu machen. Israel als Staatsräson kann doch nicht der Ernst sein der geachtetsten demokratischen Politikerin weltweit.
Republik Haifa
Fortsetzung von Abkürzungen zur "Wahrheit"
Bei der Lektüre von „Israel- eine Utopie“ kam ich mir ein bisschen vor wie Abraham, der mit Gott wegen Sodom verhandelt hat. Gott hatte beschlossen, Sodom wegen untragbarer Zustände zu vernichten. Abraham versucht ihn davon abzubringen: Es könnten doch 50 Gerechte in der Stadt leben, um deren willen möge er doch die Stadt verschonen. Schließlich handelt Abraham über 45, 40, 30, 20 Gott auf 10 Gerechte herunter. Aber die sind in Sodom nicht zu finden und so wird die Stadt zerstört [1].
In Boehms Buch habe ich die Utopie gesucht. 50 von 250 Seiten hätte ich bei dem Titel für angemessen gefunden. Aber sein Blick ging weit zurück zu Holocaust-Gedenken, Nakba und Zionismus in den unterschiedlichsten Schattierungen. Schließlich waren für die „Republik Haifa“ noch knapp 10 Seiten übrig [2], ok, kann man nach biblischer Logik gerade noch durchgehen lassen.
Die Stärke von Boehms Buch liegt m.E. in der Analyse von politischen Begriffen.Er unterscheidet zwischen „nationaler Souveränität“ und „nationaler Selbstbestimmung“.
Im Blick auf Israel heißt „Selbstbestimmung“ ein jüdischer Staat.
„Nationale Souveränität“ verlange aber keinen jüdischen Staat, sondern könnte auch in einem binationalen Staat realisiert werden. Die andere Nation in diesem Staat wäre die palästinensische. Grundrechte könnten in einem solchen Staat gleichermaßen für jedermann gelten wie in allen demokratischen Staaten der Welt. Juden hätten nicht den Vorzug gegenüber anderen „ethnischen“ Gruppen, wie er es derzeit in Israel aufgrund bestimmter Gesetze mit Verfassungsrang gegeben sieht.
Darauf baut er seine Utopie von der „Republik Haifa“ auf. Haifa, die Hafenstadt im Norden Israels, sei faktisch „binational“.
In Haifa mischen sich Araber und Juden aufgrund einer besonderen Geschichte auf allen Gebieten: kulturell, wissenschaftlich, in der medizinischen Versorgung usw. Haifa also als Vorbild für „gleiche nationale und individuelle Rechte aller Bürgerinnen“: Die Utopie umfasst 12 grundsätzliche Aspekte ausgehend von einer gemeinsamen Verfassung über gleichberechtigte Amtssprachen Arabisch und Hebräisch hin zu diversen Freiheits- und Freizügigkeitsrechten [3].
So weit, so utopisch gut. Allein es fehlen m. E. ein paar Überlegungen. Die wichtigste wäre, was eigentlich die Palästinenser dazu sagen. Boehm hat keinen einzigen arabischen Bundesgenossen im Boot, zumindest bezieht er sich auf keinen [4]. Überhaupt bleibt die Frage unterbelichtet, wie denn der Weg mit wem zur „Republik Haifa“ führen könnte. Die Namen für palästinensische relevante Organisationen wie Autonomiebehörde, PLO, Hamas kommen im ganzen Buch nicht vor. Auch Arafat spielt praktisch keine Rolle. Und gerade er steht für die „nationale Selbstbestimmung“ der Palästinenser, also für die Gründung eines eigenen palästinensischen Staates, der immerhin von den UN mehrheitlich anerkannt wurde, auch wenn er praktisch noch nicht realisiert ist [5]. Ich kann mir schwer vorstellen, dass da irgendein Konsens mit maßgebenden Palästinensern herbeizuführen wäre.
Boehm bleibt vielmehr ganz der innerzionistischen Diskussion verhaftet [6]. Seine argumentativen Gewährsleute bilden eine illustre Gesellschaft: W. Jabotinsky, Ben Gurion (jung), Hannah Arendt, Martin Buber, Menachem Begin- sie alle hätten zwar die jüdische Souveränität befürwortet, aber nicht (unbedingt) einen jüdischen Staat. Jabotinsky und Begin stehen für rechte- auch revisionistisch genannte - Positionen, Buber und Arendt für den kulturellen Zionismus, der jüdische Staatlichkeit prinzipiell als Problem ansieht. Andererseits attackiert Boehm nach dem Motto „viel Feind, viel Ehr“ eine ganze Reihe von linken, liberalen und friedensbewegten Zionisten: Ben Gurion (alt), J. Rabin, E. Wiesel, Amos Oz, David Grossman u.a. Ihnen wirft er Heuchelei über den wahren Charakter der israelischen Politik seit 1948 vor. Sie hätten jede Gelegenheit benutzt bzw. befürwortet, um jüdische Territorien auszuweiten, und hätten Vertreibungen und Annexionen betrieben oder doch befürwortet. Damit fegt Boehm jegliche Friedenspolitik vom Tisch, die durch Verhandlungen mit den Palästinensern zu einer Lösung kommen wollte. Sein utopischer Lösungsvorschlag greift vielmehr weit in die Vergangenheit zurück und sieht gerade auch in rechten zionistischen Positionen Vorbilder [7].
Boehms Ausführungen sind sehr sprunghaft. Einmal schreibt er in der genauen Sprache des philosophischen Intellektuellen (a), dann belehrt er über „wahre“ geschichtliche Hintergründe (b) und versäumte Gelegenheiten, schlussendlich ist er zornig und ereifert sich über allerlei moralische Heucheleien(c) [8]. Dennoch lohnt sich die Lektüre des Buches, ist es doch auch ein schöner Beitrag über die neue Unübersichtlichkeit zur Israel-Palästina-Problematik.
Wer allerdings ein klareres Statement zur Sache haben will, liest am besten die letzte Rede des von Boehm heftig gescholtenen Amos Oz, "Die letzte Lektion", Frankfurt 2020.
Ebenfalls heftig attackiert wird von Boehm das Buch von Ari Shavit, "Mein gelobtes Land, Triumph und Tragödie Israels", dt. München 2015. Ich halte es allerdings für eines der besten, gut verständlichen Bücher über Israel mit Schwerpunkt Geschichte in all ihrer Vielfalt.
Nicht erwähnt von Boehm wird Natan Sznaider, "Gesellschaften in Israel". Eine Einführung in zehn Bildern, Berlin 2017- eine anspruchsvolle, aber klare soziologische Darstellung Israels.
Zum Schluss noch eine Anmerkung zum vorletzten Beitrag „Gestaute Zeit“. Die Formulierung ist geklaut von Dan Diner [9]. Wenn ich es richtig verstanden habe, verwendet er die Metapher aufgrund der Unerzählbarkeit und Nichtdarstellbarkeit des Holocaust. Die Zeit staut sich in unendlich vielen Einzelgeschichten und - bildern des ungeheuerlichen Geschehens, letztlich ist der Holocaust nicht „sinnvoll“ darstellbar. Dennoch muss er natürlich ständig thematisiert, reflektiert und neu analysiert werden. Im Blick auf diesen Hintergrund ist meine Überschrift zur derzeitigen Lage in Israel - Palästina natürlich banal. Aber das Bild erscheint mir sehr eindrücklich: Es staut sich gefährlich viel Ungelöstes an, hoffen wir, dass die Entladung, glimpflich abgeht. In Beirut war die Entladung vergangene Woche verheerend. Rechtstaatlichkeit, Gewaltmonopol des Staates (kein gewalttätiger Staat im Staat wie die Hisbollah!), säkulares und religiöses Friedenspotential sind trotz allem Lichtblicke für die Zukunft von Israel-Palästina.
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[1] Gen 18, 16-33. Das ist übrigens auch der Grund für den sogenannten „Minjan“: Im jüdischen Gottesdienst müssen traditionell 10 Männer anwesend sein, damit er stattfinden kann.
[2] Boehm, Israel - eine Utopie, S. 220-229.
[3] a.a.O. S. 222-225.
[4] Allerdings geht Boehm sehr eindrücklich auf einen interessanten Vorgang in der Knesset ein, als der arabische Knessetabgeordnete Ahmad Tibi 2010 eine eindrückliche Shoah-Gedenkrede hielt und dabei nicht auf die sog. Nakba (arab. „Katastrophe“ für die Ereignisse 1948/49) einging, s. S. 93ff.
[5] vgl. H. Baumgarten, Palästina: Befreiung in den Staat, Frankfurt 1991
[6] Gerade ist das Buch von Yakov M. Rabkin, "Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus", Frankfurt 2020, erschienen. Der Autor beschäftigt sich mit der langen antizionistischen Tradition im Judentum - von den Anfängen zur Zeit Herzls bis hin zur Sekte Neturei Karta (vgl. Foto im Blog „Unterwegs“ 2. „Nach der ersten Woche in Jerusalem“). Buchbesprechung in SZ, 13.8.20, S. 12 E. Lapidot, Juden gegen Israel. Auch diese Tradition fehlt bei Boehm, obwohl er doch hier Bundesgenossen hätte.
[7] Schon in der Binationalität von Österreich- Ungarn und dem Status von Griechenland im osmanischen Reich sieht B. fruchtbare Ansätze. Die Schweiz scheint ihm etwas vergällt durch die Polemik von Amos Oz (s. S. 184). Begin ist für Boehm ein Schüler Jabotinskys, der in den 30-er Jahren „eine Föderation der Autonomie vorzog“ (s. S. 217f) Der damalige Ministerpräsident und stramme Likud-Mann Begin hatte 1977 einen überraschenden Plan zur „Selbstverwaltung für palästinensische Araber, Einwohner von Judäa und Samaria und des Gaza-Distrikts“ vorgeschlagen (s. S.204ff). Dass dieses Beispiel Boehms Argumentation unterstützt, erscheint mir zweifelhaft, bezieht sich Begins Vorschlag doch nur auf das Gebiet eines möglichen Staates Palästina. Haifa gehört bekanntlich nicht dazu.
[8] (a) vgl. Kap 1: Was ist Vergessen?, S. 59-99 (b) z.B. Kommentierung der Interviews mit Benny Morris und Ari Shavit, S. 133ff (c) vgl. Postskriptum, besonders S. 237ff.
[9] Dan Diner, Zivilisationsbruch, Gegenrationalität, gestaute Zeit- Drei interpretationsleitende Begriffe zum Holocaust. In: H. Erler u.a. „Meinetwegen ist die Welt erschaffen“. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Portraits, Frankfurt/New York 1997. S. 518ff.
Gestaute Zeit
Mir ist ein bisschen die Lust abhanden gekommen, über Israel zu schreiben. Nichts scheint voran zu gehen, stattdessen stauen sich die Probleme immer mehr an:
Die Süddeutsche Zeitung echauffiert sich heute mal wieder über Netanjahus Schamlosigkeit, 277.000 Euro Steuerbefreiungen hat er für sich geltend gemacht, zudem möchte er das Geschenk eines befreundeten Milliardärs in Höhe von 2,6 Mio. Euro annehmen dürfen, um seine Prozesskosten begleichen zu können. Bibi agiert wie immer, allerdings mit dem Unterschied, dass er früher seine Selbstbedienungen verheimlicht hat, während er sich sein korruptes Verhalten nun in aller Öffentlichkeit absegnen lässt. Die Steuerbefreiungen hat er in den Koalitionsvertrag schreiben lassen, das Geldgeschenk des Milliardärs soll ein staatliches Aufsichtsgremium genehmigen. Bibi verhält sich wie ein King, seinen Spitznamen verdient er sich täglich redlich, aber das wissen wir schon seit Anklage gegen ihn wegen multipler Korruption erhoben wurde.
Außerdem ist Corona zurück. Israel wird von der zweiten Welle getroffen mit ca. 1000 Neuansteckungen täglich. Man glaubte schon, das Virus besiegt zu haben, sah sich gar als Vorkämpfer und Vorbild in der Eindämmung der Pandemie und jetzt das. Offenbar kamen die Öffnungen nach dem Lockdown zu schnell und zu unstrukturiert, die Schulen wurden beispielsweise gleich wieder in den Normalbetrieb hochgefahren; Partys an Stränden und in Kneipen wurden wie zu alten Zeiten gefeiert; auch die Maskenpflicht wurde vorübergehend aufgehoben. Nun gibt es erneut starke Beschränkungen für Busse, Gebetshäuser, Bars, Restaurants, außerdem ist der Inlandsgeheimdienst Shin-Beth wieder mit der Überwachung von Quarantänemaßnahmen betraut worden.
Vor allem aber hat das Gerede um die Annexionen von Teilen des Westjordanlands gezeigt, dass im Konflikt mit den Palästinensern gar nichts vorangeht und die Probleme jetzt erst so richtig ans Tageslicht und auf die Tagesordnung gekommen sind. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass ab 1. Juli auf Grundlage des Trump-Friedensplanes und mit Zustimmung der US-Regierung annektiert werden kann. Washington hält sich allerdings bedeckt und hat sich bisher nicht geäußert. Gantz besteht aber unbedingt auf grünes Licht aus den USA. Angeblich soll eine Verlautbarung aus Washington in den nächsten Tagen kommen. Ob sie allerdings mehr Klarheit bringen wird, ist mehr als ungewiss. Ist doch der derzeitige Präsident früher als jeder andere vor ihm zur Lame Duck geworden. Angesichts von Antirassismus-Demonstrationen und nach wie vor steigenden Corona-Infektionen kann sich Trump eigentlich keine weitere Krise erlauben, aber bei ihm weiß man natürlich nie.
Netanjahu hat ein weiteres Problem mit "eigentlich" Verbündeten: gerade die radikalsten Siedler sträuben sich gegen die Annexionen, weil etliche der Siedlungen außerhalb des Annexionsgebiets liegen und ihr Status dadurch prekär wird. Trumps Plan sieht ja eine Zwei-Staaten-Lösung vor, das hieße, dass diese Siedlungen Enklaven im palästinensischen Territorium bilden würden. Für die Mehrheit der Siedler ein absolutes No Go, wie der Plan eines Palästinenserstaats überhaupt. Netanjahu vermeidet daher, wie der Teufel das Weihwasser, von einer Zwei-Staaten-Lösung zu sprechen, weil er die Siedler und ihre Freunde in der eigenen Likud-Partei nicht verprellen möchte. Aber wie er in diesem Punkt mit den USA klar kommen will, steht in den Sternen, denn die Amerikaner werden es sich mit den arabischen Partnern nicht verderben wollen, erst recht nicht in der jetzigen globalen Krisen-Situation.
Mit dem Annexionsgerede wurden weitere schlafende, im Moment freilich zahnlose, Tiger geweckt: Seit 13 Jahren haben Hamas und Fatah wieder mal so etwas wie Einigkeit gezeigt und in einer gemeinsamen Pressekonferenz erklärt, dass sie die Annexionen keinesfalls kampflos hinnehmen werden. Eine dritte Intifada kommt ins Spiel, also ein gewaltsamer Aufstand gegen Israel in den besetzten Gebieten, möglicherweise auch im bereits annektierten Ostjerusalem. Aber auch Verhandlungsbereitschaft wird signalisiert - Grundlage könnte dann die Friedensinitiative arabischer Staaten von 2002 sein. Überzeugend ist das alles nicht, auch nicht für die palästinensische Community, haben Fatah und Hamas doch viel Zeit verstreichen lassen und sich von gar nicht bescheidenen ausländischen Hilfsgeldern aushalten lassen. Nicht vergessen ist auch der innerpalästinensische Bürgerkrieg um Gaza im Jahr 2007 und dass seither nicht wieder gewählt wurde, also im Grunde keine der Parteien auf legitimer Grundlage agiert. Inzwischen schießt Hamas auch wieder mit Raketen aus dem Gazastreifen, was man als die übliche Begleitmusik zu unangenehmen politischen Vorgängen verstehen könnte, wenn es für die Betroffenen im Grenzgebiet nicht als alltäglicher Terror erlebt würde, würden im Vergleich dazu die alltäglichen Corona-Beschränkungen recht harmlos erscheinen.
Was geht uns das alles an? Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich derzeit in einer besonderen Zwickmühle: Gilt doch nach wie vor die Solidarität mit Israel als „Staatsräson“ (A. Merkel), ist sich zum anderen die EU fast einig, dass Annexionen geltendem Völkerrecht widersprechen. Deutschland hat am 1. Juli (!) die EU-Ratspräsidentschaft übernommen und wird um klare Äußerungen nicht herum kommen, wenngleich Boykottmaßnahmen, wie sie Frankreich, Großbritannien (gerade noch dabei) und nordeuropäische Staaten befürworten, sicher von der Bundesregierung nicht mitgetragen werden. Auch hier zeigt sich, wie viel Zeit und Probleme sich aufgestaut haben. Die Zwei-Staaten-Lösung wie eine Monstranz vor sich herzutragen und einzufordern wird der realpolitischen Situation nicht gerecht. Das liegt zum einen an einem fehlenden handlungsfähigen palästinensischen Partner und zum anderen an den geopolitischen Fakten. Tom Segev, der renommierte israelische Historiker („Die 7. Million“, „Es war einmal in Palästina“ u.a.), hat dahingehend in einem Interview der SZ - stellvertretend für eine blauäugige deutsche mainstreamaufgeklärte Öffentlichkeit - reinen Wein eingeschenkt: „Die Zwei-Staaten-Lösung ist tot“ [1]. Das für die Annexion in Frage kommende Gebiet ist faktisch in israelischer Hand, die Uhren können nicht zurück gedreht werden. Aber da sich trotz der Aufregungen um die Annexionspläne nichts bewegt, wird es wohl beim berühmten Status Quo bleiben. Im „Heiligen Land“ ist das seit osmanischen Zeiten freilich nichts Neues, auch in der Grabeskirche in Jerusalem verrückt man am besten niemals eine Leiter um ein paar Zentimeter oder lässt die Fenster lieber ungeputzt, als dass es Auseinandersetzungen unter den Besitzansprucherhebenden gibt! [2]
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[1] SZ Interview mit A. Föderl-Schmid, 20./21. Juni, Seite 8
[2] Kürzlich ist von dem israelischen Philosophen Omri Boehm ein viel beachtetes Buch mit dem Titel „Israel, eine Utopie“ erschienen. Er ist nicht so pessimistisch. Die 2-Staaten-Lösung hält er zwar auch für tot, aber er träumt von einer binationalen „Republik Haifa“ mit gleichen Bürgerrechten für Araber, Juden und wer sonst noch im Land lebt. Demnächst mehr davon im Blog und niemals Ben Gurion vergessen: Wer in diesem Land nicht mit Wundern rechnet, ist kein Realist!
In Israel steht eine große, oder besser nationale, Koalition. Benjamin Netanjahu und Benny Gantz haben sich darauf geeinigt, sich mindestens für drei Jahre das Amt des Premierministers zu teilen; die ersten 18 Monate soll Netanjahu PM bleiben, danach übernimmt Gantz für mindestens 18 Monate. Es war eine schwere Geburt und noch ist nicht abzusehen, wie hoch der Preis für die Beteiligten ist. Zunächst schien das Projekt gescheitert, obwohl sich die Parteien in den Grundlinien geeinigt hatten. Gantz hatte einem entscheidenden Knackpunkt der Vereinbarung zugestimmt: dem Fahrplan für die Annexion großer Teile des Westjordanlandes bis Anfang Juli diesen Jahres. Dann hatte im letzten Moment der Likud eine neue Bedingung gestellt: er wollte ein Vetorecht für die Berufung der obersten Richter beanspruchen.
Gantz und Blau-Weiß konnten dem nicht zustimmen und so verstrich die Frist für eine Regierungsbildung, die Staatspräsident Rivlin gesetzt hatte. Der Auftrag, eine mehrheitsfähige Regierung zusammen zu stellen, ging dann an die Knesset, woraufhin Gantz und Netanjahu sich am Montag doch überraschend schnell handelseinig geworden sind. Alles deutet darauf hin, dass Gantz von dem gewieften Netanjahu über den Tisch gezogen worden ist. Es bleibt ihm mehr oder weniger nur die Rechtfertigung, dass in der Corona-Krise keine andere Wahl blieb.
Er hat alle Kröten Bibis geschluckt:
• Der Likud hat ein Vetorecht bei der Berufung der oberste Richter,
• sollte Netanjahu doch durch einen höchstrichterlichen Entscheid daran gehindert werden, weiterhin als Premierminister zu fungieren, ist die Koalitionsvereinbarung hinfällig und es müsste neu gewählt werden,
• bei Neuwahlen, es wären dann die vierten in etwas mehr als einem Jahr, würde Blau-Weiß einbrechen und Bibi als strahlender Sieger hervorgehen. Hintergrund ist, dass Gantz wichtige Bündnispartner verloren hat.
Sowohl Meretz als auch die Partei von Yair Lapid (Yesh Atid) haben den Schwenk als Verrat und Bruch des Wahlversprechens nicht mitgemacht. Blau-Weiß hat derzeit nur noch 17 Sitze in der Knesset, weitere Verluste bei Neuwahlen sind wahrscheinlich, wie neuere Umfragen zeigen. Verblieben ist als Bündnispartner die alte Arbeitspartei, die zwei Ministerposten bekommt. Allerdings auch das zu einem hohen Preis: würde heute gewählt, würde sie laut Umfragen nicht einmal mehr ins Parlament einziehen.
Insgesamt sieht die neue Regierung 32 Ministerposten vor, die bis auf 36 aufgestockt werden können. Damit wird praktisch jeder vierte Abgeordnete Minister, es müssen schließlich alle Koalitionspartner bedient werden. Neben Likud, Blau-Weiß, Arbeitspartei sind dies die beiden ultra-orthodoxen Parteien Shas und Vereinigtes Thora-Judentum, möglicherweise kommt noch die rechtsextreme Partei von Naftali Bennett (Yamina) dazu.
Angesichts dieser politischen Turbulenzen überrascht es, dass Israel im internationalen Vergleich eine hervorragende Bewertung seines Corona-Krisen-Managements bekommt.
So sieht es jedenfalls die in London ansässige Deep Knowledge Group, ein Thinktank, der auf KI basierte Daten setzt. Die Parameter basieren entsprechend auf technischen Algorithmen. Abbau und Verletzungen von Grundwerten werden in dieser Studie offensichtlich nicht erfasst [2]. Deutschland folgt schon an zweiter Stelle, was zur Frage führt, ob Israel und Deutschland ähnlich agieren?
Inzwischen regt sich in beiden Ländern aber auch Unmut bzw. sogar Widerstand.
Die Demonstration von Tausenden auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv scheint mir drauf hinzudeuten, dass in Israel die Grundrechte stärker verteidigt werden als in Deutschland [3]. Ansätze auch von kleineren Demonstrationen werden hierzulande im Keim erstickt. Bundeskanzlerin Merkel spricht sichtlich gereizt von „Öffnungsdiskussionsorgien“ und appelliert damit indirekt an den deutschen Untertanengeist, der doch gefälligst die verordneten Sicherheitsmaßnahmen hinnehmen soll. Ist also totalitäres Auftreten in diesen Zeiten besonders wirksam, vielleicht sogar geboten, um die Seuche wirksam zu bekämpfen? Stehen Israel und Deutschland deshalb international an der Spitze, weil sie klare Kante zeigen und sich auf die Loyalität der Bürger verlassen können?
Ich halte die Versuchung zu totalitärem Verhalten in der gegenwärtigen Krise in der Tat für gegeben. Die Krise verstärkt den seit Jahren zunehmenden Trend zu autoritären, einfachen, populären Lösungen. Netanjahu ist ein Extrembeispiel: Er stellt seine persönlichen Interessen über Amt und Staat, sogar die Corona-Krise nutzt er, um seine Haut zu retten, indem er den wohlmeinenden Gantz austrickst und ihm seine Bedingungen diktiert. Dagegen wirkt Merkels Ausrutscher wie der Hilferuf einer überforderten Krisenmanagerin. Allerdings ist er ebenso Ausdruck dafür, dass auch hierzulande Technokratie und leichtgläubige Wissenschaftsgläubigkeit im Vormarsch sind. Die vielen Extras in den öffentlich-rechtlichen Medien werden dominiert von Virologen und Gesundheitsstatistikern, flankiert von Wirtschaftsauguren. Die Experten geben die Richtung vor, aber eben nicht alle Experten. Psycho-soziale Folgen der Krise wurden lange nicht bedacht, erst seit Anfang der Woche verschafft sich die Familienministerin Gehör nach vielen verzweifelten Rufen der Betroffenen.
Mit dem Begriff „Totalitarismus“ muss man freilich vorsichtig sein. Er geht im wesentlichen auf die Analysen von Hannah Arendt in den 50er Jahren zurück [4]. Als sie 1956 den ungarischen Aufstand gegen das stalinistische Satellitenregime begrüßte, machte sie sich viele Linke zur Feindin, weil ihre Position benutzt wurde, um Faschismus und Kommunismus gleichzusetzen, was ihr zu Unrecht unterstellt wird. Nach meiner Überzeugung können wir hinter ihre Erkenntnisse nicht zurück [5]. Genauso wenig wie „Faschismus eine Meinung ist“ (Adorno), hat totale Herrschaft keine politische Legitimität. Die Fähigkeit zur Meinungsbildung ist schon weitgehend erodiert, aber es gibt keine Alternative. Deshalb bleibt die Demokratiebewegung in Israel lebenswichtig, genauso wie Diskussionsfreudigkeit und der Wille zu vielfachen Perspektiven hierzulande.
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[1] Mannheimerisch: freundlicher, aber energischer Hinweis, nicht über die Klippen des Alltags zu stürzen!
[2] In Diskussionen mit Freunden und Bekannten wird immer wieder auf die schwedische Herangehensweise gegen Corona verwiesen, sie sei vernünftiger und liberaler. Nach dieser Untersuchung hat es Schweden nicht unter die ersten 40 Länder geschafft. Liegt das Land aufgrund einer sehr hohen Todesrate so weit zurück oder liegt es daran, dass Messdaten realistischer erfasst und transparenter weiter gegeben werden? Schweden setzt auf Freiwilligkeit und Vernunft seiner Bürger, lässt Schulen, Kindergärten, Restaurants usw. weiter geöffnet. Allerdings gibt es auch da einen täglichen Virologen-Rapport, der mit Nachdruck auf den Ernst der Lage hinweist (vgl. SZ vom 21.4.2020, Seite 3). Vielleicht hat ja Schweden ein entwickelteres Sozialverhalten, nach meinen Aufenthalten in der Mannheimer Innenstadt kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Strategie bei uns funktionieren würde. Man darf gespannt sein, wie das Ranking ausfallen wird, wenn die Corona-Krise - hoffentlich in absehbarer Zeit - hinter uns liegen wird. Detailergebnisse unter: https://www.dkv.global/covid
[3] Natürlich richten sich die Proteste auch gegen die Hartnäckigkeit Netanjahus, um jeden Preis im Amt des Ministerpräsidenten zu bleiben, aber das Aufbegehren gegen den Notstandsausnahmezustand ist zumindest Auslöser der Demonstrationen.
[4] H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, zuerst New York 1951
[5] vgl. "Only God Knows", weiter unten
Hag Sameach - frohe Ostern!
An Pessach und Ostern feiern wir die Befreiung aus Sklaverei und Tod! Vielleicht hatten wir noch nie die Gelegenheit, die Bedeutung dieser Feste besser zu verstehen als heute. Fühlen wir uns doch in diesen Corona-Zeiten extrem unfrei und müssen uns mit Sterben und Tod auseinander setzen. Vor dem Virus sind wir alle gleich: es trifft die Alten mehr, kann aber auch die Jungen treffen; es bedroht die Kranken mehr, gefährdet aber auch gerade die Helfer, unsere „Helden des Alltags.“
Der Sedertisch ist mit allerlei Speisen gedeckt, mit welchen die Bedeutung des Festes geschmeckt werden kann.
Die Kinder fragen viermal „Ma nishtana?“ - Was bedeutet das alles, dass wir heute ungesäuertes Brot essen, die Bissen in Salzwasser eintauchen usw. [1].
Der Älteste, in der Regel der Familienvater, erzählt bzw liest dann die Haggadah- die Geschichte von der Befreiung aus Ägypten.
Pessach oder Passah erinnert an die erste Revolution in der Menschheitsgeschichte.
Eine revolutionäre Gruppe erkämpft sich die Befreiung aus der Sklaverei. Israel wird erstmals als Gemeinschaft, als Volk erkennbar, als es das Zwangsarbeiterdasein in Ägypten abschüttelt und sich auf den Weg in eine neue Existenz, ins „Gelobte Land“ macht. Das Menschenrecht Freiheit wird zum ersten Mal in der Geschichte postuliert und realisiert, auch wenn der Weg durch die Wüste noch lang und hart ist.
Die Pessachfeier beginnt mit dem Sederabend, nach jüdischer Zeitrechnung am Abend vor dem ersten von acht Feiertagen. Traditionell in der Familie, aber immer auch als „Open House“, an Pessach sollte möglichst niemand alleine sein, deshalb sollen immer auch Freunde und Fremde willkommen sein.
Beim Hören, Schmecken und Feiern stellt sich jedes Jahr neu heraus: Wir sind gar nicht von selbst auf die Idee der Freiheit gekommen. Gott hat den Anstoß gegeben und alles bis ins Kleinste bewirkt, damit wir das Sklavenhaus verlassen und frei werden. Gott haben wir das Menschenrecht Freiheit zu verdanken. Wir wären mit den Fleischtöpfen Ägyptens zufrieden gewesen, Hauptsache Grundversorgung aber ohne Menschenrechte.
Am Ende der Feier verabschiedet man sich mit „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Noch ist das Fest nicht vollkommen, noch hat sich die Freiheit nicht realisiert. Man geht auseinander mit dem „Prinzip Hoffnung“ [2]. Wer in diesem Jahr in Jerusalem feiert, muss die bittere Erfahrung machen, dass Freiheit eine Utopie bleibt. CORONA bringt es an den Tag: Wir leben in der Spannung von „Schon und Noch-Nicht“. Der Auszug aus Ägypten hat schon stattgefunden, aber angekommen sind wir noch nicht in einer Realität, in der jeder/jede Rechte hat [3].
Ohne Passah gäbe es kein Ostern. Der Jude Jesus hat mit seinen jüdischen Jüngern zum Abschied das Passahlamm gegessen. Am Vorabend seiner Kreuzigung stand der Tempel in Jerusalem noch, Passah wurde noch blutig gefeiert. Jesus und seine Jüngern taten, was alle frommen Juden einmal im Leben tun sollten, Passah im Tempel feiern. Drei Tage nach seiner Kreuzigung machten zunächst die Frauen um Jesus, später auch die Männer die Erfahrung: Jesus ist das Passahlamm! Auferstehung und Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten gehören zusammen. Gott bewirkt nicht nur die politische Befreiung, Gott befreit den Menschen vollständig von seinen Grenzen. Die letzte und größte irdische Macht, die den Menschen versklavt ist der Tod. Jesus, der Jude aus Nazareth, ist der erste, über den der Tod keine Macht mehr hat. Der Jude Paulus und andere haben das Zeugnis weiter getragen und weiter bedacht. Noch mehr Grenzen sind an diesem besonderen Passahfest der Kreuzigung gefallen.
Nicht nur Juden haben diese Befreiungsgeschichte mit Gott, sondern alle Menschen. Ostern ist das universale Passahfest. Ethnische, sprachliche und sonstige Grenzen zwischen Menschen sind aufgehoben. Aber auch der Geltungsbereich von Freiheit ist aufgehoben. Gott hat dem Menschen mehr als irdische Freiheit zu bieten. Uns allen blüht der Tod, die Utopie der Freiheit verspricht uns aber ein neues Kapitel, womöglich eine niemals endende story.
Paulus und die frühen Christen haben dieses universale Reich der Freiheit verkündigt, gekommen ist die Kirche [4]. Das ist nicht die Schuld der Christen, von Seiten Gottes fehlt da was, damit es alle glauben können bzw. besser: sehen und schmecken können. Die Schuld der Christen und der Kirche ist allerdings, dass sie den Juden Jesus verraten hat und Passah und Ostern auseinander gerissen hat, ja sogar Ostern an die Stelle von Passah gesetzt hat. Schlechte Religion braucht den Feind, gegenüber dem sie um so heller erstrahlt. Schlechte Religion braucht das Böse als identifizierbare Person, nicht als „unmögliche Möglichkeit“ [5]. Schlechtes Christentum brauchte den bösen Judas, um Karfreitag und Ostern zu erklären. Corona-Zeit wäre auch die Zeit, um mit dem alten Unsinn und der „bad religion“ aufzuräumen!
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Only God knows- oder auch nicht!
Im Herbst 2018 verbrachte ich einige schöne Tage im Jerusalemer Stadtviertel Rechavia, gegründet von deutschen Juden nach dem 1.Weltkrieg mit der Idee eines „Grunewald im Orient“ (Thomas Sparr). Am letzten Tag war das Programm soweit durch und ich beschloss spontan mal in eine der Siedlungen im besetzten Gebiet zu fahren. Die Bushaltestelle mit den Zielorten Tekoa, Efraim und Shilo war mir schon lange aufgefallen. Also setzte ich mich dorthin und wartete. Nachdem nach über einer halben Stunde immer noch kein Bus zu einem dieser Orte gekommen war, beschloss ich zwei Männer zu fragen, die sich neben mir lebhaft unterhielten. Es entspann sich folgendes Gespräch:
Ich: „Excuse me, is this the bus station to Tekoa and Shilo?“
Passant 1 +2 (blicken auf die hebräische Beschilderung der Haltestelle): „Yes, of course.“
Ich: „Do you know, when the bus runs?“
Passant 1: „No, only God knows!“
Ich: „Ok, I asked the wrong one, thank you!“
Passant 1 und 2 grinsen.
Gott ist im israelischen Alltag stets gegenwärtig, auch wenn die meisten nicht mehr an ihn glauben. Vermutlich gilt das auch für den hilfsbereiten Mann, der mir keine Auskunft geben konnte. Dennoch war seine Auskunft absolut richtig, denn wir sitzen da alle im gleichen Boot, gläubig oder nicht. Wir wissen nicht alles- weder im Alltag noch in überhitzten Zeiten wie der gegenwärtigen Corona-Krise. Das fällt aber dem modernen Menschen schwer, der doch in der Schule brav lernt, die Naturwissenschaften hätten für alles ein Gesetz und wenn sie es nicht haben, dann haben sie es bisher nur noch nicht gefunden. Das Leben, die Politik, die Gesundheit- alles muss doch planbar sein, zwar nicht von jedem Einzelnen selber, aber dafür haben wir ja die Experten, Wissenschaftler und Politiker.
Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter hat das den „Gotteskomplex“ [1] genannt. Der aufgeklärte Mensch meint das dunkle Mittelalter mit seinem falschen Gottesglauben überwunden zu haben, aber im Grunde hat er da nur eine Leerstelle im eigenen Bewusstsein geschaffen. In diese Leerstelle hält die „fröhliche Wissenschaft“ (Nietzsche) Einzug oder der Fortschrittsglaube an die Machbarkeit der Welt. Richter beurteilt das als „infantilen Größenwahn“, der den Menschen zum größten Feind seiner selbst macht. Nachweisen konnte er das zur Entstehungszeit seines Buches mit der atomaren Aufrüstung, die jedes Leben auf der Erde bedroht und jeder Zeit in Gang gesetzt werden konnte/kann.
Glauben und Denken sind keine Widersprüche. Gläubige können falsch glauben, wenn sie meinen, durch ihren Glauben wüssten sie alles. Atheisten denken genauso falsch, wenn sie denken, es gäbe einen alternativen Weg zum Allwissen. Insofern sitzen alle in einem Boot. Die Frage ist dann allerdings, was richtiges Denken ist. In Abwandlung von Adorno kann man auf alle Fälle sagen: Es gibt kein richtiges Denken im falschen, d.h. wer meint, es gibt die Wahrheit oder es gibt das genaue Wissen, denkt auf alle Fälle falsch.
Angesichts von Corona wird immer wieder gesagt, nach der Krise wird nichts mehr so sein wie vor der Krise. Diese Erfahrungen haben die Generationen seit dem 2.Weltkrieg samt und sonders nicht gemacht, alles wird sich grundlegend ändern. Das hört sich an wie ein Zivilisationsbruch [2], den die spätere Geschichtsschreibung so wird werten müssen. Ich halte das für falsch. Den Zivilisationsbruch haben wir bereits hinter uns mit dem millionenfachen Massenmord der Nazis an Juden und anderen Menschengruppen. Der große Schock für das Bewusstsein kam aber erst in den 60er Jahren mit Hannah Arendts Entdeckung der „Banalität des Bösen“ [3]. Eichmann, Hitlers schlimmster Handlanger bei der Organisation des Massenmordes, war kein Monster, sondern ein Schreibtischtäter. Er war intellektuell nicht beschränkt. Sein Organisationstalent im Sinne der „instrumentellen Vernunft“ [4] war hervorragend und so konnte er äußert effektiv die Massentransporte in die Gaskammern planen. Nach Arendts Erkenntnis konnte er gar nicht gegen sein Gewissen handeln, denn er hatte keins. Und er hatte kein Gewissen, weil er nicht denken konnte.
Aber was ist dann Denken, wenn es nicht gleichzusetzen ist mit der „instrumentellen Vernunft“ bzw. mit der Fähigkeit zu verstehen, wie die Dinge funktionieren und wie mit ihnen umzugehen ist?
Denken oder besser Urteilskraft ist für Arendt die Fähigkeit zu Dialog und Pluralität. Erkenntnis entsteht durch die vielfältige Kommunikation zwischen Personen. Das Gegenteil ist der eindimensionale Mensch, der diese Fähigkeiten nicht hat, und nicht in der Lage ist den Perspektivwechsel vorzunehmen und sich in andere Menschen hinein zu versetzen. Daraus erwächst Dummheit, Gewissenlosigkeit, letztlich Charakterlosigkeit. Anders gesagt: Denken braucht weder Glauben noch Unglauben zur Voraussetzung. Auch ist Denken keine Frage (angeborener) Intelligenz. „Only God knows“ im Sinne meiner Jerusalemer Begegnung gilt für alle. Wer den richtigen Weg sucht, muss wissen, dass die Antwort nicht einfach zu kriegen ist.
Arendts Theorie stammt aus den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Im Aufkommen und Erstarken des Populismus seit der Jahrtausendwende wird sie meines Erachtens bestätigt. Wir müssen von einer flächendeckenden Unfähigkeit zu denken und zu urteilen ausgehen. Weite Teile der erwachsenen Bevölkerung will nicht nur keine Zeitung mehr lesen, sondern kann es auch nicht. Daher auch die beliebte Medienschelte und die Tendenz zu Verschwörungstheorien. Zweifellos macht es die „neue Unübersichtlichkeit“ [5] niemandem leicht, sich in der Postmoderne zurecht zu finden, aber Denken und Urteilen sind deswegen nicht nur nicht verboten, sondern möglich.
Im „Weltspiegel“ der ARD vom Sonntag, den 5. April, kam eine Reportage über die Auswirkungen von Corona in Großbritannien. Eine Frau, die in einem sozialen Beruf tätig ist, kam folgendermaßen sinngemäß zu Wort: Es ginge überhaupt nicht, dass in London jetzt riesige Wohnflächen leer stehen, während große Not an Versorgungsplätzen für Menschen besteht, die durch die Corona-Krise betroffen sind. Und diese luxuriösen Wohnflächen stehen deshalb leer, weil die Reichen , z.B. Regierungsmitglieder, in ihre riesigen Landgüter ziehen und die Menschen in der Krise im Stich lassen. Für mich ein Beispiel für Denken, Urteilsfähigkeit und Handeln.
Das Gegenbeispiel bietet der Premierminister, der zum Beweis der Harmlosigkeit von Corona Infizierten im Krankenhaus medienwirksam die Hände schüttelte, dann auf seinem Landgut verschwand und jetzt wieder zurückgekehrt ist, um professionelle Hilfe in einem Londoner Krankenhaus in Anspruch zu nehmen.
Aufklärung hieß mal bei Kant, den Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen. Vielerorts wird heute Unmündigkeit mehrheitsfähig und selbstverschuldet gewählt. In Corona-Zeiten wäre jetzt Zeit, darüber nachzudenken. In der Krise gibt es nicht die Wahrheit, aber es gibt richtiges und falsches Denken, Urteilen und Handeln.
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[1] H.E.Richter, Der Gotteskomplex, Reinbeck 1979
[2] D.Diner, Zivilisationsbruch, in: H.Uhl, Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur, Innsbruck 2003
[3] H.Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1964
[4] M.Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, Frankfurt 1967
[5] J.Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985
Coronakrise – die ideale Zeit für Verschwörungstheoretiker, Apokalyptiker, Antisemiten
Scharlatane und Idioten haben jetzt Konjunktur. Manche haben den ultimativen Zahlencode gefunden, der vor Corona in allen Lebenslagen schützt- 537354. Andere sehen in der Krise einen Komplott von Schweinemastindustrie, Kirche und Politik. Oder die Chinesen sind verantwortlich, die mit 5 G-Technik die Welt erobern wollen und in Wuhan mit Pilot-Städten experimentieren. Wer es nicht glaubt, möge die Zahl der Kettenbriefe beachten, die beweisen, wie viele Menschen schon den Durchblick haben. Eine interessante Zusammenstellung vom bayrischen Sektenbeauftragen Matthias Pöhlmann findet sich im Sonntagsblatt (https://www.sonntagsblatt.de/autor/matthias-poehlmann).
Immer wieder ist auch die Rede von der Corona-Apokalypse oder „coronapokalypse“. Erzählungen vom Weltuntergang hatten in den letzten Jahrzehnten ohnehin Konjunktur, man denke nur an den Hype um das Jahr 2012, als Maya-Kalender, biblische Prophetie und solare Katastrophen auf abenteuerliche Weise vermixt wurden. Auch Corona forciert die „Lust am Untergang“. Das Unüberschaubare, Ungewisse, Unheimliche von Verbreitung und Ausmaß der Pandemie nutzen religiöse und rechtsradikale Apokalyptiker für ihre Zwecke. Die religiösen Apokalyptiker weiden sich am Untergang der Bösen, der Gottlosen oder der amoralischen Moderne überhaupt. Gott ist letztlich die Ursache dieses Geschehens, weil er das Treiben nicht mehr länger mit ansehen konnte. Ohnehin ist ja alles in der Bibel vorausgesagt. Rechtsradikale sahen schon lange den Volkstod kommen durch den großen Austausch, den dunkle Mächte im Geheimen planen. Attentäter, vom Norweger Breivik bis zu den Mördern von Halle und Hanau sind von solchen Phantasien besessen. In Corona-Zeiten breitet sich die Gefahr weiterer Aktivitäten der Rechtsradikalen aus, nicht von ungefähr ließ der Innenminister am ersten Tag der Ausgangsbeschränkungen eine Reichsbürger-Gruppe verbieten.
Selbstverständlich ist inzwischen auch die antisemitische Internationale auf dem Plan. Von Manipulation der internationalen Aktienmärkte ist die Rede, wofür natürlich Juden zuständig sind (Plattform „Telegram“). Andere meinen, durch die Seuche will „ein Bündnis von Zionisten und tiefem Staat“ die Wiederwahl Donald Trumps verhindern ("white supremacy“). Im Iran ist von einer „zionistisch-biologischen Terrorattacke“ die Rede (Revolutionsgarden). Russia Today erkennt in Corona den Masterplan einer globalen Regierung, die von 200 Familien mit einem 40 Billionen-Dollar-Etat gebildet wird. Und im türkischen Staatsfernsehen äußerte ein „Experte“: Wer immer das Virus verbreitet hat, wird auch den Impfstoff dazu entwickeln“, gefolgt von der Information, dass Israel selbst erklärt habe, diesen Impfstoff entwickelt zu haben (alle Belege bei: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/im-fieberwahn/).
Die Absurdität dieses Schwachsinns ist offensichtlich. Dennoch auch hier noch mal der Hinweis, dass Blödheiten dieser Art keinerlei Recht haben, sich auf biblische Texte oder irgendeine vernünftige christliche Tradition zu berufen. Die biblische Apokalypse endet in der Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde, wo alle Tränen abgewischt sein werden. Gute Religion ist mit dem guten Gott der Bibel verbündet, der eine gute Zukunft für diese Welt hat.
Glauben in Zeiten von Corona:
Zwischen unverantwortlicher Unvernunft und Hilfe zur Heilung
Wenn man auf die Berichterstattung über Religion in Zeiten von Corana schaut, zeigt sich auf den ersten Blick eine Ökumene der Unvernunft. Ein Ausgangspunkt der Ansteckungswelle im Elsass war offensichtlich das Fastentreffen einer evangelischen Freikirche in Mulhouse. Mehr als 2500 Teilnehmer verbrachten eine Woche lang auf engstem Raum eine Zeit des „Gebets und Gesangs“ (faz.net/Corana-Krise im Elsass 30.03.20). Dank des Prinzips der „Offenen Tür“ konnte sich das Virus in Ansteckungsketten nach Deutschland, in die Schweiz, nach Korsika und bis Französisch-Guyana verbreiten, Teilnehmerlisten waren nicht vorhanden. Ähnliches geschah in Südkorea, wo die Behörden die Epidemie bisher am wirksamsten bekämpft haben: Von den 9000 Infizierten im Land sollen etwa die Hälfte der Shincheonji-Sekte angehören, deren Gottesdienste stundenlang in enger Gemeinschaft gefeiert werden.
Ähnliche Zusammenhänge werden von muslimischen Gemeinschaften in Malaysia, Bangla Desh oder Iran berichtet. In Israel ist die Ansteckungsrate in ultra-orthodoxen Gemeinden signifikant höher. Laut Haaretz vom 31.03. hat Bnei Barak, ein ultra-orthodoxes Stadtviertel in Tel Aviv, 50% mehr Ansteckungsfälle als die übrige Stadt. In Jerusalem blieben die Schulen der Yeshivat-Tiferet Zion-Gemeinschaft trotz der öffentlich verfügten Schließung tagelang geöffnet. Auch wurden viele Synagogen zum gemeinschaftlichen Gebet weiterhin genutzt.
Natürlich ist das nicht der Umgang „der Religion“ mit der Corona-Krise. In Italien, Spanien, Deutschland und in anderen betroffenen Ländern (mittlerweile auch in Russland, nach sehr zögerlicher Reaktion des russ.-orthodoxen Patriarchats) sind die Gottesdienste in den Kirchen längst abgesagt, ein umfassender Homeservice wurde eingerichtet und mannigfaltig an die Solidarität der Gläubigen appelliert.
Der katholische Theologe Thomas Söding (feinschwarz.net/Theologisches Feuilleton 25.03.2020) weist allerdings darauf hin, dass christlicher Glaube mehr leisten könnte, wenn die biblische Tradition der Seuchenbekämpfung eine größere Rolle spielen würde. Entgegen der Vorurteile von der archaischen Irrelevanz biblischer Überlieferungen zeigt er, dass in den alttestamentlichen Reinheitsgeboten in 3. Mose 13 +14 sehr detaillierte und brauchbare Anleitungen zur Eindämmung und Überwindung von „Aussatz “ (allgemeiner biblischer Begriff für Seuchen aller Art) beschrieben werden. Impfstoffe gab es damals nicht, aber bei genauer Befolgung der priesterlichen Anweisungen wurden die Sozialkontakte so lange unterbunden, bis zweifelsfrei die Heilung festgestellt werden konnte (vgl. z.B. Lev 13,3-8). Auch „Desinfektionsanweisungen“ werden minutiös vorgegeben und Sicherheitsmaßnahmen erst aufgehoben, wenn die Seuche zweifelsfrei überwunden ist (vgl. Lev 14, 34-48).
Gerade in fundamentalistischen Kreisen, in denen eine Hochschätzung der Bibel vielfach betont wird, wäre es hilfreich, solche Bibelauslegungen zu verbreiten. Glaube und Magie sind verschiedene Dinge. Wegzaubern, Wegbeten oder heilige Schutzschirme sind nicht angesagt. Vertrauen und Handeln nach Gottes Thora hingegen schon!
Corona, Israel und wir
Längst ist die Corona-Krise auch Thema im Feuilleton. Philosophen, Soziologen, Psychologen, Theologen machen sich Gedanken, wie diese „Seuche biblischen Ausmaßes“ unser Leben verändert und welche Bedeutung sie für uns haben könnte.
Der Philosoph Slavoj Zizek, bekennender Atheist, setzt bei dem Wort des auferstandenen Jesus zu Maria Magdalena an: „Rühr mich nicht an!“ (Joh 20,17) und folgert, dass uns die Krise als alles umwälzende Erfahrung zu einer neuen Sicht unserer Mitmenschen führen könnte: „Erst jetzt, da ich vielen, die mir nahe stehen, aus dem Weg gehen muss, erfahre ich voll und ganz ihre Gegenwart, ihre Bedeutung für mich.“ (Quelle: Philomag, Philosophiemagazin).
Der Soziologe Hartmut Rosa geht im Interview mit eben diesem Magazin davon aus, dass wir „in einer Welt, die auf Wachstum beruht, nicht langsamer werden (können), ohne das Gleichgewicht zu verlieren.“ Die Herausforderung besteht jetzt darin, dass wir dennoch einer Vollbremsung ausgesetzt sind und wir unfähig sind, die Folgen dieser Krise vorherzusagen, und nicht zu wissen, ob wir überhaupt die Gegenmittel haben. Aber auch er sieht das Positive: „Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten, wir kommen aus dem Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus (sic!), aus der Aggressionshaltung gegenüber der Welt und dem Alltag heraus.“(Philomag 18.03.20). Das wäre die optimistische Variante, es ereignet sich so etwas wie Neugeburtlichkeit (Hannah Arendt), wir sollten ihr eine Chance geben.
Auch David Grossman, nach dem Tod von Amos Oz wohl der bedeutendste lebende Schriftsteller in Israel, sieht das Ungewisse und Herausfordernde der Situation: „Hallo, wieso sollten wir plötzlich verlieren? Schließlich sind wir die Menschheit des 21. Jahrhunderts!“ (faz.net. aktualisiert 20.03.20). So fragt er skeptisch im Blick auf die gegenwärtige Situation. Und er zitiert Albert Camus (Die Pest): „Eine Plage ist ein böser Traum, der vorübergehen wird […]. Aber er geht nicht immer vorüber, von einem bösen Traum zum nächsten sterben Menschen.“
In dieser Situation erkennen wir aber auch, „in welchem Maß jeder Mensch eine ganz eigene, unendliche Kultur in sich birgt, deren Verschwinden der Welt etwas wegnähme, für das es keinen Ersatz geben kann und wird.“
Und das wäre auch die konkrete Chance im Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Corona könnte Zweifel aufkommen lassen, dass dieser Kampf im Auftrag Gottes stattfindet. Nationalistische Positionen könnten sich für unsinnig erweisen, nachdem wir kollektiv den tiefgreifenden Erfahrungen von Corona ausgesetzt waren.
Gefühlt befinden wir uns wohl mitten drin in der Corona-Krise. Wir wünschten, das Ende zeichnet sich ab. Vielleicht ist das ja aber erst der Anfang. Wir wissen es nicht. Zizek, Rosa, Grossman sind menschenfreundliche Optimisten mitten im Sumpf. Es wäre schön, wenn das richtig ansteckend wäre!
Das Corona-Virus legt das öffentliche Leben weitgehend lahm, größter Einschnitt in unser Leben seit Gründung der BRD heißt es immer wieder, Krise, aber vielleicht auch Chance, sich ein bisschen mehr mit sich selbst zu beschäftigen und den Vorgängen in der Welt. Ich mache jetzt mal, wie angekündigt, mit dem Israel-Blog weiter.
Hauptthema in Israel ist derzeit natürlich auch Corona, aber damit haben wir ja selbst genug zu tun. Daher gilt der Focus zwei Dauerbrennerthemen: Der 3. Wahl zur Knesset am 2. März 2020 und dem „Friedensplan“ des US-Präsidenten Trump, der früher oder später eine Rolle in der weiteren Entwicklung spielen wird.
Netanjahu und die Verfassungskrise
Als ob die Lage nach der 3. Wahl innerhalb eines Jahres nicht schon chaotisch genug wäre, sorgen nun Corona und Netanjahu in Israel für kaum vorstellbare Verhältnisse. Bibi hat sich vollends der Parole „Nach mir die Sintflut“ verschrieben.
Aber der Reihe nach: Staatspräsident Rivlin hat nach Befragung der neugewählten Knesset-Mitglieder, den Blauweiß-Leader Gantz mit der Regierungsbildung beauftragt. 61 Abgeordnete, also die denkbar knappste Mehrheit, haben sich für ihn als Ministerpräsident ausgesprochen. Allerdings lässt sich mit dieser Mehrheit keine Regierung machen. Verbunden sind diese 61 nur durch ihre entschiedene Ablehnung Netanjahus. Neben Gantz` eigenem Bündnis sind das die arabischen Parteien, die mit 15 Sitzen einen deutlichen Stimmenzuwachs erzielt haben, und die nationalrelgiöse Partei von Avigdor Lieberman, der offenbar unter keinen Umständen Netanjahu noch einmal unterstützen will. Konstruktiv können diese Parteien aber nicht zusammen arbeiten, würden aber eine Minderheitsregierung mit Gantz an der Spitze unterstützen. Dafür hätte Gantz jetzt fünf Wochen Zeit.
Aber Netanjahu scheint der Corona-Ausbruch zu Hilfe zu kommen. Schon letzte Woche hätte der Prozess gegen ihn wegen Betrug, Untreue und Bestechung beginnen sollen, wegen Corona wurde er jedoch mindestens bis Mai verschoben. Aber damit nicht genug; Bibi hat Notstandsverordnungen verhängt, mit denen er die Demokratie in Israel endgültig aufs Spiel setzt. Mossad und Shin Beth (Auslands- und Inlandsgeheimdienst) wurden mobilisiert, um mit Methoden der Terrorbekämpfung Überwachungen von Infizierten zu organisieren. Parlamentarische Spielregelungen werden außer Kraft gesetzt, Parteifreund und Parlamentspräsident Edelstein schickte unter Berufung auf den Notstand die neugewählten Knessetmitglieder kurzerhand nach Hause, bevor sie ihn mit ihrer Mehrheit absetzen konnten. Demonstrationen sind natürlich verboten, ein Autokorso zur Knesset wurde von der Polizei aufgelöst. Bestsellerautor Yuval Hariri warf Netanjahu daraufhin vor, eine Diktatur unter Vorwand der Seuchenbekämpfung errichten zu wollen.
Noch aber gibt es die Gewaltenteilung: das Oberste Gericht hat angeordnet, dass bis Dienstag, 24.3. die Knesset zusammentreten und ein Parlamentsausschuss über die Notverordnungen entscheiden muss (Süddeutsche Zeitung SZ, vom 21.3.20). Wir werden sehen, was sich Netanjahu bis dahin einfallen lässt!
Link: Jüdische Allgemeine 20.03.2020 - Proteste gegen abgeriegelte Knesset
Die Lage nach den Wahlen zur Knesset am 2. März 2020
Zum Verhältnis Israelis - Palästinenser
Trumps Friedensplan - Deal des Jahrhunderts?
Am 12. März war ich zu einer „Ökumenischen Themenreihe“ ins Ev. Gemeindehaus in Badenweiler eingeladen, Thema war Trumps Friedensplan auf dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Israelis und Palästinensern. Im Folgenden sind in Stichworten die wichtigsten Aspekte des Planes genannt, wie ich sie bei der Veranstaltung vorgetragen habe. Danach in Pro und Contra Argumente, die in der Diskussion seither genannt wurden. Was fehlt ist ein Ergebnis oder Ausblick, was freilich schwer möglich ist in der verworrenen Situation. Dennoch will ich hier auf Grund der Eindrücke aus der Diskussion in Badenweiler einige Gedanken ergänzen:
1. Der „Friedensplan“ wird keine Lösung bringen, nicht nur weil er unzureichend ist, sondern vor allem weil die politischen Akteure fehlen, die den nötigen Rückhalt in ihren jeweiligen Gesellschaften haben, um einen „Friedensprozess“ voranzutreiben.
2. Im Blick auf Israel heißt das: Die beiden großen Blöcke von Likud (Netanjahu) und Blauweiß (Gantz) stehen hinter dem Plan und befürworten eine Annexion vom Jordantal und großen Siedlungsblöcken; das gleiche gilt für die Liebermann Partei (Unser Haus Israel), die bei der Regierungsbildung der „Königsmacher“ werden könnte. Als „Friedensparteien“ könnte man allenfalls das Linksbündnis um Avoda bezeichnen, das aber noch mal eingebrochen ist und nur noch sieben Sitze in der Knesset hat, und die „Vereinigte Liste“ der arabischen Parteien, die zwar kräftig zugelegt haben (15), aber insgesamt hätten diese Gruppierungen nur die Unterstützung von einem Drittel der Knesset-Mitglieder.
3. Im Blick auf die Palästinenser heißt das: Sowohl Fatah (Westjordanland) als auch Hamas (Gaza) lehnen den Trump-Plan entschieden ab und sehen ihn als neues Hindernis für neue Verhandlungen. Aber sie bleiben auch untereinander verfeindet. Seit über 10 Jahren haben die Palästinenser nicht mehr gewählt und es gibt im Grunde keine legitime Vertretung für einen denkbaren Staat „Palästina“. Würde gewählt werden, hätte die Hamas ziemlich sicher einen hohen Stimmenanteil und würde bei der Regierungsbildung eine Rolle spielen. Hamas lehnt aber nach wie vor das Existenzrecht Israels ab und würde vermutlich alles daran setzen, eine „Friedensregelung“ zu verhindern.
4. Kurz gesagt: die Lage scheint aussichtsloser als je! Israel hat einen gewaltigen Rechtsruck erlebt und er wird sich vermutlich fortsetzen. In Palästina sind unversöhnliche und terroraffine Akteure weiterhin dominant und werden es bleiben. Von außen („Friedensplan“) kommen keine hilfreiche Impulse, vom alten „Nahostquartett“ (UN, USA, Russland, EU) ist derzeit nichts zu hören.
5. Ich sehe eigentlich nur eine Möglichkeit, die Lage zu verbessern: Kushner und die Trump-Administration treiben tatsächlich die 50 Milliarden-Dollar- Hilfe für Palästina auf, sorgen für eine seriöse Projektbegleitung ohne die übliche Korruption, schaffen tatsächlich eine Million Arbeitsplätze, verbessern vor allem die Bewegungsfreiheit der Palästinenser mit „Tunneln, Brücken und modernen Straßen“ und binden ihre arabischen Bündnispartner nachhaltig in diese Entwicklung ein. Gleichzeitig müssen sie Israel davon abhalten, neue Fakten zu schaffen mit Annexionen und Siedlungsbau.
6. Unser Beitrag in Deutschland, EU, Kirchen usw. kann und wird nur gering sein. Was wir aber tun könnten, wäre die Polarisierung überwinden. Will sagen: Nicht alle, die gerechte Lösungen wollen, sind Antisemiten! Und: Israel ist weder Apartheid-Staat, noch faschistisch geworden, sondern hat trotz Netanjahu eine erstaunlich starke Demokratie!
Trumps Friedensplan im Detail
Westjordanland
• Gründung eines palästinensischen Staates mit einer Fläche wie vor 1967 (Westbank + Gaza)
• Ohne Jordantal und "große Mehrheit" der Siedlungen
• Gebietstausch, z.B. Umm al-Fahm (heute Israel) palästinensisch
• Keine weiteren Siedlungen durch Israel ab sofort
• Netzwerk von Straßen, Brücken und Tunneln/Reduktion der Checkpoints
Gaza
[1] Schon hier werden die unterschiedlichen Perspektiven je nach Begriffsvermögen eingeübt, die nach Hannah Arendt für Denken und Urteilen unabdingbar sind (vgl. „Only God knows...“)
[2] E.Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 3 Bde 1959ff
[3] „Das Recht aller Menschen, Rechte zu haben“ muss nach Hannah Arendt das Ziel von Politik sein
[4]Leichte Abwandlung des berühmten Spruches von A.Loisy (französischer Theologe gest. 1940): „Jesus hat das Reich Gottes verkündigt, gekommen ist die Kirche.“
[5] Eine Formulierung von K.Barth in Kirchliche Dogmatik III/3, 405 u.ö. nach M.Weinrich, Wir sind aber Menschen in calvin09.de von Politik sein
• Erweiterung um zwei kleine Gebiete im Negev Richtung Ägypten
• Errichtung von Industriezonen
• Nach 5 Jahren "auf Bewährung" neuer Hafen und kleiner Flughafen
• Nutzung der israelischen Häfen Asdod und Askelon
• Wird von Westjordanland aus regiert
• Entwaffnung der Hamas
Flüchtlinge
• "Wahlfreiheit": Rückkehr in palästinensischen Staat/Integration in arabische Gastländer/ Umsiedlung in Organisation für Islamische Zusammenarbeit
• Fonds für Kompensationszahlungen
• Zahlen unklar, da sich Flüchtlingsstatus vererbt (ursprünglich ca.700.000)
• Auch jüdische Flüchtlinge aus arabische Staaten (ca. 900.000) werden erwähnt und sollen entschädigt werden
Sicherheit
• "Vorrang der Sicherheit"
• Demilitarisierung des künftigen Palästinenserstaates
• Israel kontrolliert Luftraum, Zubringerstraßen/Baugenehmigungen für grenznahe Gebäude
• "Sicherheitsüberprüfungsausschuss" bestehend aus Israel, Palästina und USA
Weitere Regelungen
• Gefangenenaustausch/ aber keine verurteilten Mörder
• Demokratie im Palästinenserstaat
• Überarbeitung der Lehrpläne (Antisemitismus)
• Keine Renten an Familien von Terroristen
• 50 Milliarden für Palästina/eine Million Arbeitsplätze
• Freihandelszone Palästina, Jordanien, USA
• "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten" (Unterstützung durch Oman, Bahrain, VAE, Saudi Arabien (?))
• Status Quo der "Heiligen Städten" bleibt
Trumps Friedensplan in der Diskussion
Pro
• Zwei- Staaten-Lösung anerkannt
• Anerkennung der Realität
• Stagnation im "Friedensprozess" überwunden
• Palästinenser nicht verhandlungsfähig, da keine legitime Regierung und zerstritten
• Abzug bzw. Räumung von Siedlungen führte in Vergangenheit nicht zu weniger Terror
• Wirtschaftliche Lösung als Grundlage für Überwindung des Konflikts
• Kein legitimer Anspruch der Palästinenser auf Westbank, da vorher von Jordanien
annektiert
• Siedlungen sind nicht völkerrechtswidrig, da niemand dorthin deportiert wurde (4.Genfer Konvention 1949)
Contra
• Alibi für Annexion von Jordantal und Siedlungsgebiete
(ca.30% des Westjordanlandes)
• Verfestigung der Einstaat-Lösung
• Palästinensischer Staat nicht lebensfähig, da territorial zersplittert und keine
Kontrolle über Außengrenzen (z.B. Ein-, Ausreise)
• Ostjerusalem als Hauptstadt Palästinas: Was soll das sein?
• Kein Rückkehrrecht der Flüchtlinge nach Israel
• Völlige Abhängigkeit Palästinas von USA und Israel
• Unklare Legitimität des Plans
• Plan ist identisch mit Position der israelischen Rechten (+ Gantz!)
• Zusammenhang mit Wahlkampf 2020
24.03.2020 16:28
Willi
HOB, die Seiten deines "Buches" füllen sich. Bx, bleib xund und zu Hause ! VG an alle. Willi
Heinz
24.03.2020 11:50
OFW, danke und selber bx!
Marianne
24.03.2020 12:03
Hallo Heinz,
Bleibe gesund und bis bald!
Herzliche Grüsse Marianne und Pascal
Heinz
25.03.2020 21:45
Alles gut hier! Danke gleichfalls!