Im Text von Varda Muhlbauer ist die Rede davon, dass „wir am 7. Oktober in einer veränderten
Der aktuelle Tsunami des Antisemitismus hat viele in der jüdischen Gemeinde verblüfft. Er hat jedoch vor allem die jüdischen Liberalen in Israel verwirrt und entsetzt. Eine Freundin erzählte mir, dass sie in letzter Zeit Jean-Paul Sartres Buch "Antisemit und Jude" [1]auf ihrem Nachttisch liegen hat. Sie sagt, dass sie gerade jetzt dringend sein klares Denken und noch klareres Schreiben braucht, denn er versteckt sich nicht hinter soziologischen Abstraktionen oder Schlagworten. (Obwohl das Buch 1944 geschrieben wurde), hilft es das emotionale und intellektuelle Chaos zu entwirren, das nach dem katastrophalen Zusammen-stoß zwischen Hamas und Israel ausgebrochen ist. Offensichtlich ist Sartres Buch nicht das, was man als idyllische Bettlektüre bezeichnen kann. Meine Freundin sagt jedoch, dass es ihr hilft, zwischen legitimen Argumenten und einem Antisemitismus zu unterscheiden, der nicht in die Kategorie der freien Meinungsäußerung fällt. Sartre schreibt über die Logik der antisemitischen Leidenschaft, die oft tief sitzend ist und in Formen theoretischer Vorschläge dargelegt werden kann, die plausibel klingen.
Und in der Tat ist Sartres Text zu diesem unerbittlichen Thema eine Augen öffnende Erfahrung. In seinen abschließenden Bemerkungen stellt er fest: Es ist unwichtig, dass der Antisemitismus eine falsche Vorstellung ist, stärker wiegt die Tatsache ist, dass es sich um das falsche Denken einer Gruppe (bzw. ganzer Gruppen,HS) handelt. Der Jude muss immer beweisen, dass die Anschuldigungen falsch sind. Und doch werden die Menschen (gemeint sind die Antisemiten,HS) den Beweis, den er liefert immer ablehnen. Und an anderer Stelle schreibt er: „Antisemitische Leidenschaft geht den Tatsachen voraus, die sie hervorrufen sollen; sie sucht sie aus, um sich an ihnen zu ernähren“.
Es ist definitiv seltsam zu sagen, dass ein Buch über das antisemitische Phänomen jemandem Trost spenden kann, der im aktuell komplizierten Spinnennetz gefangen ist. Viele liberale Juden erleben jetzt einen orwellschen Alptraum. Was auch immer sie als gemeinsame Wahrheiten mit den westlichen Liberalen hielten, brach schnell zusammen und wurde durch Fakten und Anekdoten ersetzt, die in einer Art und Weise verdreht wurden, wie es der Strategie und der Propaganda der Hamas entspricht. Auch glaubten jüdische Liberale, dass sie eindeutig zu einer besonderen kulturellen Gemeinschaft gehören, die gemeinsame liberale Werte teilt. Nun müssen sie feststellen, dass sie aus dieser Gemeinschaft vertrieben werden. Stattdessen werden sie einer Kategorie von Identitätsjuden zugeordnet, die durch Attribute wie Privilegierte, Unterdrücker, Kolonisatoren und vieles mehr gekennzeichnet werden (Simon Sebag Montefiore widerlegt diese Behauptungen methodisch in einem interessanten Artikel in The Atlantic). Viele liberale Juden reiben sich jetzt ungläubig die Augen. Wie kann es sein, dass ein totalitäres fundamentalistisches Regime, das offen den Jihad und „ Itbah al – yahud“ (Schlachtet die Juden) propagiert als legitime und hoch angesehene Organisation von Freiheitskämpfern angesehen wird? Wie kann es sein, dass die Rufe „Freiheit für Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer“ (de facto die Vernichtung des jüdischen Staates!) von Liberalen in den westlichen Demokratien weithin akzeptiert und gerechtfertigt werden? Und warum wird angesichts der steigenden Todeszahlen in Gaza die Forderung nach Einstellung der Kämpfe ausschließlich an Israel und nicht an die Hamas gerichtet? Wie kommt es, dass die satanische Strategie der Hamas hinter Zivilisten als Schutzschilden zu kämpfen, die Demonstranten, die zu einem Waffenstillstand aufrufen, nicht beunruhigt? All dies (und Vieles mehr) lässt einen erkennen, was bis vor Kurzem fast undenkbar war: Die Perspektiven haben sich verschoben und die Dinge werden völlig anders gesehen, wenn „der Jude „(um Sartres Logik zu verwenden) involviert ist. Die Fakten spielen keine Rolle in der Beurteilung, was in der realen Welt passiert.
Die aktuellen gesellschaftspolitischen Einstellungen und Diskurse sind sehr beängstigend! Für viele führen sie zu Erinnerungen an dunkle Zeiten in der jüngeren europäischen Geschichte. Der Anklang an bösartige Mechanismen der Propaganda und ihrem Potenzial, Massen von Menschen anzuziehen, toxischen Führern zu folgen und totalitäre Regime zu umarmen, drängen sich auf. Offensichtlich ist das alte lateinische Sprichwort „Vox populi vox Dei“ nicht immer wahr. Peter Viereck (1956) schrieb, dass sich die Vox Dei als Vox Diaboli entpuppen kann. Das Potenzial für zerstörerischen Populismus wächst, wenn Menschen dazu neigen, in ihrer Komfortzone der eingängigen, trendigen und leicht zu verdauenden Propaganda zu bleiben ( und z.B. nicht die Charta der Hamas lesen, um ihre Kernüberzeugungen und Visionen zu verstehen). Die Trommeln des Antisemitismus sind deutlich zu vernehmen.
Viele liberale Israelis fühlen sich völlig verloren und verwirrt. Sie setzten sich dafür ein, die ultrarechte Regierung zu stürzen und das unrechtmäßige Verhalten der Siedler in den besetzten Gebieten zu delegitimieren. Sie hielten an der Vision der Zwei-Staaten-Lösung fest trotz vieler Rückschläge. Die derzeitig allgegenwärtige anti-israelische und anti-jüdische Stimmung in den Straßen und Universitäten wirkt jedoch wie ein letzter Schlag gegen uns. Wir wachten in einer veränderten Realität auf (oder vielleicht war es immer so)?, in der islamisch-totalitäre Regime und Organisationen (d.h. Iran) unser individuelles und kollektives Dasein bedrohen. Die Hamas wird nicht als das wahrgenommen, was sie ist – ein mörderischer Mechanismus, der vom Iran mobilisiert wird, um die vollständige Kontrolle über die Region zu erlangen.
Man kann sich in Sartres Schriften flüchten und seine Ansichten nutzen, um vieles von dem zu entschlüsseln, was heute geschieht, und dennoch hoffen, dass dies nicht das ganze Bild abdeckt. Vielleicht sind noch nicht alle konstruktiven und rationalen Haltungen in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt blockiert. Meiner Ansicht nach ist es dringend notwendig, die komplizierten Interessen zu verstehen und die mächtigen Akteure zu kennen, welche den Konflikt in einen internationalen Krieg verwandeln wollen, in dem fundamentalistische Regime eine große Rolle spielen. Sind Hamas und Hisbollah ( Stellvertreter des iranischen Terrors zusammen mit dem Dschihad im Gazastreifen, schiitische Milizen in Syrien und im Irak und Huthis im Jemen) die besten Vertreter palästinensischer Interessen? Diese mächtigen Spieler schaffen es, die "Underdog-Karte" zu ziehen, selbst wenn sie unverzeihliche Gräueltaten begehen. Sie werden sofort von jeglichem Fehlverhalten frei gesprochen. Ist dies nicht eine verzerrte und extrem vereinfachte ( um nicht zu sagen dumme) binäre Weltsicht? Ich hoffe zusammen mit vielen israelischen Liberalen, die an eine "Zwei-Staaten-Lösung" glauben, dass die Welt zur Vernunft kommt und sich für eine gerechte und friedliche Lösung für beide Nationen einsetzten wird.
Varda Muhlbauer, Ph. D
Varda Muhlbauers (zusammen mit Mina Zemach) herausgegebener Band „Behind the Partition: Ultra-orthodox women, power and poltics wird voraussichtlich im Januar 2024 erscheinen.
Über die Autorin:
Varda Muhlbauer ist pensionierte Dozentin für Psychologie. Sie ist daran interessiert, die Art und Weise zu analysieren, wie sich Machtstrukturen auf geschlechtsspezifische Probleme auswirken. In letzter Zeit haben kulturelle und geopolitische Veränderungen dazu geführt, dass sie sich auf Fragen der Identität konzentriert, die mit Religion, Nationalismus und Liberalismus in Verbindung stehen.
[1]dt. „Überlegungen zur Judenfrage. Neuauflage bei Rowohlt 2023