31. Aug, 2022
Wenn der Israelsonntag violett begangen wird, also im Sinne von Klage und Buße, dann ist als Predigttext Kapitel 5 von den sogenannten Klageliedern Jeremias vorgesehen. Die Bibelwissenschaft kann in diesem Fall Zeit und Ort des Textes recht genau zuordnen. Er ist entstanden nach der Zerstörung des 1. Tempels in Jerusalem durch die Babylonier im 6. Jahrhundert v.Chr. Bekannter sind Texte, die im babylonischen Exil entstanden sind. By the rivers of Babylon- eine Nachdichtung von Ps 137 hat es bis in die Charts des 20. Jahrhunderts n.Chr. gebracht. Klagelieder 5 aber ist entstanden in Jerusalem, gebetet von Menschen, die Tag für Tag die Verwüstungen vor Augen hatten und die Gräuel des Krieges ertragen mussten. Ins Exil mussten vermutlich die wenigsten, Teile der Oberschicht- Politiker, Priester, Gebildete. Zurück blieben vor allem einfache Leute, denen die neuen Herren, die Babylonier, wenig Widerstandskraft zutrauten. In diesen Kreisen dürfte dieses Klagelied entstanden sein…
Das Buch der Klagelieder
Kapitel 5
1Gedenk doch, Adonaj, was uns geschah! Schau her, sieh an unsre Schmach!
2An Fremde fiel unser Erbteil, an Ausländische unsre Häuser.
3Waisen sind wir geworden, kein Vater ist da;
unsere Mütter gleichen Witwen.
4Unser Wasser – nur für Geld können wir's trinken,
unser Holz – nur gegen Bezahlung kommt's uns zu.
5Man sitzt uns im Nacken, wir sind erschöpft; Ruhe lässt man uns nicht.
6Ägypten gaben wir die Hand, auch Assur, uns satt zu essen an Brot.
7Verfehlt haben sich unsere Väter und Mütter; sie sind nicht mehr da.
Aber wir: Ihre °Verschuldungen müssen wir tragen.
8Sklavenseelen herrschen über uns; niemand entreißt aus ihrer Hand.
9Wegen des Schwerts, das aus der Wüste droht –
unter Lebensgefahr bringen wir unser Brot ein.
10Wie ein Ofen brennt unsre Haut, weil der Hunger so wütet.
11In Zion vergewaltigen sie Frauen, junge Frauen in den Städten Judas.
12Von feindlicher Hand werden hohe Herren gehenkt,
die Ältesten werden nicht geehrt.
13Junge Männer müssen Mühlsteine tragen,
Knaben straucheln unter der Holzlast.
14Aus ist's mit der Alten Beratung im Tor, mit der Jungen Saitenspiel.
15Aus ist's mit unsres °Herzens Freudenglanz,
in Trauer verwandelt unser Reigentanz,
16von unserm Haupt gefallen der Kranz.
Weh uns noch! Wir verfehlten uns doch.
17Deshalb geriet uns in Trauer das Herz,
darüber verdunkelten sich uns die Augen:
18über Zions Berg, dass verödet er liegt; Füchse streunen auf ihm.
19Du, Adonaj, auf °immer thronst du;
dein Sitz: Generation um Generation.
20Warum willst auf Dauer du uns vergessen,
uns verlassen für endlose Tage?
21Lass du uns °zurückkehren, Adonaj, zu dir, so °kehren wir zurück.
Erneuere unsere Tage wie früher!
22Außer du hast uns verworfen, verworfen, zu sehr uns gezürnt …
Textauszug aus: Bibel in gerechter Sprache © 2006
Kriegsverbrechen, unerträglich und doch wahr.
Kriegsgräuel, unvorstellbar, wie Menschen das ertragen können- und doch Realität. Es ist geschehen, es geschieht heute und jetzt, und es wird wieder geschehen.
Es gehört zum biblischen Realismus, die Augen nicht zu verschließen, sondern die Dinge beim Namen zu nennen:
Kinder verlieren ihre Eltern. Kinder werden missbraucht. Willkür und sexuelle Gewalt sind an der Tagesordnung. Lebensmittel fehlen. Für Trinkwasser muss bezahlt werden. Brennmaterial gibt´s nur für viel Geld. Kaufen muss man es von Staaten, mit denen man lieber nichts zu tun haben wollte. Respektable Menschen werden würdelos behandelt, Recht gibt es nicht mehr. Von Festen und Freuden ganz zu schweigen. Alles vorbei und ein Ende nicht in Sicht.
Als Putins Russland am 24. Februar in der Ukraine einmarschierte, sagte Außenministerin Annalena Baerbock den denkwürdigen Satz: „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht!“ Damit hat sie die Gefühlswelt in unserem Land auf den Punkt gebracht- auch bei mir. Das war nicht vorgesehen, damit haben wir nicht wirklich gerechnet, dass der Wahnsinn noch einmal Realität wird. Nach einem halben Jahr Krieg aber wissen wir längst, dass die Welt keine andere ist als vorher.
Wir hätten es wissen müssen: in Syrien waren und sind Millionen Menschen derselben Gewalt ausgesetzt wie in der Ukraine. Im Jemen sind in sieben Jahren Bürgerkrieg 120.000 Menschen getötet worden und auch wenn jetzt weniger gekämpft wird, sind Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. In unserem Land wird gestritten, ob es zumutbar ist, die Hände mit kaltem Wasser zu waschen, die Verteilungskämpfe um das knappe Gas haben begonnen, jeder ist sich selbst zunächst mal der Nächste. Wir hätten es wissen können, dass die Welt so ist, sie war noch nie eine andere.
Aber mit dem Wissen ist es so eine Sache, ganz ähnlich wie mit dem Glauben. Sowohl Wissen als auch Glauben bedeuten noch lange nicht, das Richtige zu tun. Ja, mehr noch: Weder Glauben noch Wissen bedeuten Durchblicken, Verstehen, was Sache ist. Weder Fakten noch große Wahrheiten verschaffen ein sicheres Urteil in einer unübersichtlichen Welt. Aber was helfen dann Glauben und Wissen? Für das Wissen müssen wir das jetzt dahin gestellt sein lassen. Für den Glauben haben wir eine Quelle , eine Richtschnur- seit Luthers Reformation sola scriptura genannt, allein die Schrift.
Das letzte Gebet aus der Sammlung der Klagelieder zeigt, wie realistisch der Glauben ist. Nichts wird verschwiegen, die Not und das Elend von Menschen wird drastisch und erschütternd beim Namen genannt. Menschen können „Ganz unten“ sein, sie haben alles verloren, geblieben ist ihnen nur die Stimme ihre der Verzweiflung alles heraus zu schreien. Aber wer soll sie hören? Niemand ist da, der auf ihrer Seite steht.
Wir bekennen: zum Glauben gehört Gott. Viele Psalmen in der Bibel handeln davon, dass Gott die Not wendet. „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“, heißt es in Psalm 31, und Gott hört, die Klage verwandelt sich in Glück, die Not ist vorbei ,neues Leben möglich wird. Aber nicht so hier im letzten Klagelied.
Am großen Volkstrauertag der Juden, Tischa b'Aw, werden alle Klagelieder Jeremias gelesen oder gesungen. Man sitzt auf dem Boden der Synagoge und erinnert an alle Schrecken der jüdischen Geschichte: nicht nur die Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem durch Babylonier und Römer wird erinnert, sondern auch an die Vertreibung der Juden aus England und Spanien bis hin zu den Gräueln des Holocaust. Die Klage schließt mit dem letzten Vers von Klagelied5: „Erneuere unsere Tage wie früher. Es sei denn, du hast uns zu sehr gezürnt!“
Und das heißt doch: Es könnte sein, dass Gott nicht vergibt.Es könnte sein, dass von Gott nichts mehr kommt: kein Trost, keine Hilfe, keine Antwort: Nichts! Schlimmer kann es für fromme Menschen nicht kommen. Aber zum biblischen Realismus gehört auch die Gottverlassenheit. Eine kaum erträgliche Erkenntnis für gläubige Menschen. Gerade auch fromme, gläubige und theologisch geschulte Christen tun sich schwer damit. Deshalb werden Texte wie die Klagelieder erst gar nicht gelesen, schon gar nicht im Gottesdienst. Oder man verkürzt und verstümmelt sie in wie zum Beispiel Psalm 139, der so schön anfängt: „Herr, du erforschest mich und kennest mich...“, wo es gegen Ende aber heißt: „Mit äußerstem Hass hasse ich meine Feinde!“. Im Gottesdienst werden diese unangenehmen Verse einfach weggelassen.
Sola scriptura- allein die Schrift- schön wärs. Schon Luther hat eifrig gecancelt, was ihm nicht passte. Gerade auch im Neuen Testament ganze Schriften, die nicht zu seiner schönen Lehre von der Rechtfertigung passten. Schlimmer noch: das Klischee vom strengen, unbarmherzigen, rachsüchtigen Gott des Alten Testaments, im Gegensatz zum barmherzigen, liebenden Gott des Neuen Testaments- dieses Klischee hat sich im Christentum wie eine Glaubenswahrheit verfestigt.
Die deutschen Christen in der Nazi-Zeit wollten die Viehhändler- und Zuhältergeschichten des Alten Testaments entfernen und mit ihnen die ganze hebräische Bibel, dazu noch die Sündenbocktheologie des Rabbiners Paulus. So hieß es in der berüchtigten Kundgebung im Berliner Sportpalast 1933. Natürlich ist das theologischer Unfug, aber das Gerücht vom bösen Gott des Alten Testaments hält sich hartnäckig. Der Berliner Theologe Slenczka fordert allen Ernstes das AT aus dem christlichen Gottesdienst zu entfernen, er meint: „Das AT ist als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet.“
Gott verlässt gläubige Menschen, Gott vergibt nicht, Gott macht nicht alles gut, es wird nicht alles so wie früher- das kann für viele christliche Ohren nicht sein. Und doch müssten gerade wir Christen es wissen. Das NT erzählt von der Todesangst Jesu im Garten Gethsemane. Jesus betet: Vater, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen!“ Aber der Kelch ging nicht an ihm vorbei, sein Weg führte zum Kreuz. Dort schreit Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus, der Christus, hat die totale Gottesfinsternis erfahren. Was ihm blieb, war, mit den Gebeten Israels seine Gottverlassenheit heraus zu schreien. Jesus erging es nicht anders als den Klagenden im verwüsteten Jerusalem, als der Tempel zertrümmert war. Gott kann schrecklich fern sein und der Mensch ohne Zukunft.
Wir glauben- nach dem Kreuz kommt die Auferstehung. Gott kann nicht untreu sein. Gott kann nicht anders als an seinen Menschenkindern festhalten. Gegen alle Erfahrung gibt es doch eine Zukunft. Gott verlässt nicht- im Glauben können wir es sehen, hören, schmecken und bekennen: Jesus ist der Christus. In ihm ist erschienen, was wir sein werden. „Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters,...“ bekennen wir im Glaubensbekenntnis. Gott hat Jesus einen Platz gegeben an seiner Seite. Und so wie ihm wird es Platz und Raum geben für alle gekreuzigten und geschundenen Menschen. Gottes Raum ist nicht begrenzt, alle passen hinein.
Zu Gott kommen wir Christen über den Juden Jesus. Sein Kreuz ist das Zeichen der Solidarität Gottes mit allen seinen Geschöpfen. Der Israelsonntag soll es bewusst machen: Da ist Vieles schief gelaufen in der Geschichte von Kirche und Christentum. Das Kreuz ist zu einem ganz anderen Zeichen geworden. Aus dem Zeichen der Liebe und Solidarität ist ein Zeichen des Sieges und des Triumphes geworden.
Vor ein paar Wochen war ich in dem schönen alten Städtchen Trier, eine der ältesten deutschen Städte überhaupt, eine Römerstadt. Dort ist der Kaiser Konstantin aufgewachsen- der Kaiser , der das Christentum zu einer starken politischen Macht gemacht hat. Natürlich nicht nur er, aber die Geschichtsschreibung will es so, dass er die große Wende herbei geführt hat.. Ihm soll das Christuszeichen vor einer entscheidenden Schlacht am Himmel erschienen sein- ein griechisches X und ein R und er soll eine Stimme gehört haben: „In diesem Zeichen siege!“ Egal, was an dieser Geschichte Dichtung und Wahrheit ist, jedenfalls wurde das Christentum in den folgenden Jahrhunderten eine Religion der Macht. Und das Christentum wurde eine Religion des Sieges über seine bösen Gegner. Einer dieser Gegner, gar Feinde, wurden die Juden.
An der wunderschönen Liebfrauenkirche in Trier ist es am Eingang eindrucksvoll dargestellt. Dort stehen sich zwei schöne Frauengestalten gegenüber, die eine ist die Ecclesia, die Kirche, die andere die Synagoga, das Judentum. Die Ecclesia strahlt, lacht und hält einen Reichsapfel mit dem Kreuz in der Hand. Die andre, die Synagoga, hat den Kopf gesenkt, die Augen sind ihr verbunden, der Stab in ihrer Hand ist zerbrochen. Diese Figuren waren in der Zeit der Gotik , im 13. und 14. Jahrhundert, weit verbreitet- auch in Straßburg, Metz, in Bamberg oder in Freiburg sind sie zu sehen. Sie zeigen: Die Kirche ist im Besitz der Wahrheit, das Christentum hat gesiegt, das Judentum ist gebrochen. Und je mehr und je härter die Christen über die Juden herrschen, umso deutlicher wird, auf welcher Seite Gott steht. Gott hat sein auserwähltes Volk enterbt und der Kirche die Macht auf Erden gegeben. So glaubte man.
Natürlich- Konstantin ist Antike und Gotik ist Mittelalter, aber die Rechthaberei, die Besserwisserei, die Arroganz, Gott im eigenen Boot zu wissen, ist der Kirche bis heute geblieben. Der Preis, den wir dafür zu zahlen haben, sind die unzähligen Spaltungen in Kirchen, Konfessionen und Sekten. Wie absurd und beschämend diese Streitereien sein können, zeigt sich gegenwärtig, wenn russisch-orthodoxe und ukrainisch-orthodoxe Kirche glauben, dass Gott jeweils die eigenen Waffen segnet und bei der eigenen Partei mit im Boot sitzt.
Aber auch die Bibelvergessenheit und die Arroganz, mit der Hebräischen Bibel nach Gutdünken verfahren zu dürfen, sind nach meiner Überzeugung eine Folge von Triumphalismus und Rechthaberei. Ein Beispiel: Im 5.Lied der Klagelieder haben wir gehört, dass Gottes Vergebung und Zuwendung durchaus nicht sicher sind. In unseren Gottesdiensten scheint Gott aber manchmal so etwas wie ein Vergebungsautomat zu sein. Am Buß- und Bettag beispielsweise fragt der Pfarrer nach einem ellenlangen Bußgebet: „Begehrst Du mit aufrichtigem und lauterem Herzen die Vergebung der Sünden?, so antworte mit Ja. Und gleich darauf verkündet er mir und der ganzen Gemeinde als berufener Diener die Vergebung der Sünden. Ich glaube, auch da ist etwas schief gelaufen. Wo soll ich denn so schnell ein lauteres und aufrichtiges Herz hernehmen? Hat Gott überhaupt eine Wahl zu vergeben, wenn es nach dieser Liturgie ginge? In den Klagelieder steht es anders, es könnte auch sein, dass Gott nicht vergibt und fern bleibt und von einer Wende nichts zu spüren ist. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass nach 1945, nach Krieg und Holocaust, die Vergebungsautomatik in unserer Kirche besonders hoch im Kurs war.
Israelvergessenheit, Judenfeindschaft, Antisemitismus sind in unserem Glauben und in unserer Kultur tief verwurzelt, aber sie sind kein Verhängnis. Es geht auch anders! Ecclesia und Synagoga können auch Freundinnen sein. 2015 wurde in Philadelphia/USA auf dem Gelände der Universität eine andere Skulptur aufgestellt: Synagoga and Ecclesia on time. (heute). Jetzt sind die beiden Frauengestalten „im Dialog“,Thorarolle und die christliche Bibel sind geöffnet, beide suchen gemeinsam nach Wahrheit und Gerechtigkeit, beide sind im Gespräch über Gottes Wort heute.
Diese neue Darstellung keine Modeerscheinung. Im Grunde war es schon immer so. Christen und Juden haben dieselbe Wurzel im Glauben. So gut wie alle Texte im Neuen Testament sind von Juden verfasst, von Juden, die an Jesus als den Messias Israels glaubten. Allmählich beginnt sich diese Erkenntnis auch in der neutestamentlichen Wissenschaft durchzusetzen. Auch das NT ist ein jüdisches Buch, nicht nur das AT.
Vor 500 Jahren ist Johannes Reuchlin, der große Humanist aus Pforzheim, gestorben. Leider ist er nicht so bekannt wie Luther. Reuchlin hat die hebräische Bibel gegen christliche Judenhasser verteidigt und hat dringend geraten, dass die Theologen Hebräisch lernen müssen um die ganze Heilige Schrift zu verstehen. Es ist durchaus nicht so, dass zu Luthers Zeiten Judenfeindschaft normal war und Luther halt ein Kind seiner Zeit war, wie viele zu seiner Verteidigung sagen. Reuchlin und andere Theologen, besonders die Humanisten, haben das Judentum hoch geschätzt, Reuchlin meinte sogar, auch das Studium des Talmud könne nicht schaden.
Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Zelle in Berlin mit Hilfe der Psalmen entdeckt, was es heißt ein Christ zu sein. Theologieprofessor war er schon,
bevor er von den Nazis eingesperrt wurde, aber erst die Erfahrungen im Gefängnis mit den Gebeten Israels haben ihn zum Christen gemacht, wie er in einem Brief aus der Zelle schrieb. Er fühlte sich nicht nur von wunderbaren Mächten geborgen als böse Mächte die Herrschaft übernommen hatten. Er hat auch gelernt: „Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt. Und gerade so und nur so ist er bei uns und hilft“. So schrieb er aus seiner Zelle.
Für mich stammt das schönste Bild zum Verhältnis Juden und Christen von dem Berliner Theologen Friedrich- Wilhelm Marquardt der viel zu früh gestorben ist. „Am jüdischen Rockzipfel hängt er“, hat er einmal formuliert- „Am jüdischen Rockzipfel“- so hat er im Grunde alle seine Texte überschrieben. Damit spielte er an auf eine Stelle beim Propheten Sacharja. In Sach 8,23 heißt es: „ So spricht Adonaj Zebaoth: In jenen Tagen da ergreifen, ja ergreifen zehn Menschen aus allen Nationen den Zipfel einer einzigen jüdischen Person und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Mit Euch ist Gott!“
Am jüdischen Rockzipfel hängen und mitgehen und etwas lernen von Gott und der Welt- für mich hat sich dieser Weg bewährt.Am jüdischen Rockzipfel lernen: die hebräische Sprache, die Sprache der Bibel, die niemals ausgeschöpft ist. Die jüdische Literatur, die unzählige Welten öffnet und andere Zeiten, andere Orte, andere Menschen miterleben lässt. Am jüdischen Rockzipfel jüdisches Denken lernen, jüdische Philosophie, die so viele Erklärungen hat und doch an kein Ende kommt. Das Land Israel in all seiner Schönheit, mit all seinen Konflikten und Widersprüchen. Vor allem aber: auch das Schreckliche, das Unsagbare und Unverstehbare gehört dazu: Zeugnisse aus der Zeit der Judenvernichtung durch die Nazis. Auch das ist Wirklichkeit und real, Jahrzehnte her, aber niemals vergangen. Bei Sacharja heißt es: Menschen hängen sich an den jüdischen Rockzipfel, weil sie gehört haben: Mit euch ist Gott! Aber wo war Gott, als Auschwitz geschah?
Etty Hillesum, eine junge Frau aus den Niederlanden hat von März 1941 bis zu ihrer Deportation im Oktober 1943 Tagebuch geführt. An einem Sonntag schrieb sie: „Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt. Aber ich kann mich von vornherein nicht verbürgen. Nur dies eine wird immer deutlicher: Dass du uns nicht helfen kannst, sondern wir dir helfen müssen.Dadurch helfen wir letzten Endes uns selbst. Es ist das Einzige, worauf es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten,Gott. Vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.“ Etty Hillesum wurde nach einem Bericht des Roten Kreuzes am 30.November 1943 in Auschwitz ermordet.
Am jüdischen Rockzipfel führt der Weg nicht weg von Jesus. Am jüdischen Rockzipfel führt er von neuem nach Gethsemane und in den Karfreitag. Am jüdischen Rockzipfel führt er aber auch nach Ostern und ans leere Grab: Gott ist mit seinen Menschen, auch wenn alles dagegen spricht.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen