Nach recht langer Zeit gibt es ab sofort wieder Blog-Einträge. Ein Grund für die lange Stille war der 7. Oktober. Wenn ich mit Freunden in Israel spreche, ist immer noch Entsetzen, Lähmung und Ratlosigkeit vorherrschend. Das überträgt sich. Zumal in unserem Land - aber nicht nur hier - eine für mich nicht nachvollziehbare Umkehrung der Täter-Opfer-Perspektive um sich greift. Empathie ist Mangelware und der ewige Judenhass ist mit seinen speziellen Deutungen schnell zur Stelle.
Die gestern bei der Gedenkveranstaltung in Mannheim mehrfach gesungene Hymne Israels "Hatikwa" motiviert aber zum Weitermachen. Die Alternative heißt: "Hoffnung" trotz alledem."
Der andere Grund für die lange Stille ist das oben angezeigte Buch. Immer wieder waren Eingriffe und Ergänzungen nötig, aber jetzt ist es im Druck und der Erscheinungstermin steht fest. Karl-Heinz und Gerhard alias Jochanan und Jerry erzählen ihre Geschichte des 20. Jahrhunderts. Von Mannheim ging es nach Israel und in die USA. Den Nazi-Schergen entkommen, haben sich beide ein neues Leben in Sicherheit aufgebaut und neue Familien gegründet. Nach dem 7. Oktober erscheint nun auch ihre Geschichte in einem anderen Licht: Die Menschen in Israel sind nicht mehr sicher und der Antisemitismus ist auch in den USA in Universitäten und Schulen angekommen.
Für mich waren in den Begegnungen mit Jochanan besonders seine Aufrichtigkeit, seine Reflexionsfähigkeit, aber auch sein Humor wichtig. Und er hat das weiter gegeben an seine Kinder und sein ganzes Umfeld wie Gerhard auch. Ihre Geschichte ist für mich auch Ermutigung, die "Tikkun Olam", die Verbesserung von Gottes Welt, nicht aufzugeben. Gerhard hat in sein Exemplar von "Jerry`s Story", diesen Begriff voran gestellt. Wie er setzt das Judentum auf das Leben im "Hier und Heute" und in der Zukunft. Den Kult des Todes musste man anderen überlassen und muss es wohl auch weiter tun.
Der erste Eintrag nach der Pause steht ganz unter dem Eindruck der Gedenkveranstaltung zum 7. Oktober in der Synagoge in Mannheim. "Kontextualisierungen" und weitere Beobachtungen werden folgen. Allen LeserInnen ein "Schana Tova", ein gutes Neues Jahr 5785, das nach jüdischer Tradition am 3. Oktober begonnen hat.
8. Oktober 2024
Heinz Sigmund
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Vor Kurzem ist das Buch über Jochanan und Jerry Valfer erschienen, die ihre Kindheit in Mannheim als Karl-Heinz und Gerhard verbrachten. Es geht um das Schicksal von zwei Brüdern im 20. Jahrhundert, jüdische Mannheimer, die in Deutschland nicht leben durften, aber sich vor den Nationalsozialisten retten konnten. „Während Europa vor 1945 Teil der jüdischen Hoffnung auf Freiheit war, ist dieser europäische, jüdische Traum heute entweder in den USA oder in Israel angesiedelt,“ schreibt Natan Sznaider in seinem unbedingt lesenswerten Buch „Politik des Mitgefühls“ (Weinheim 2021, S.161) und weiter: „Amerika wurde zur Erfüllung des europäischen Traums, weil zur Emanzipation nur der Atlantik überquert werden musste. Man konnte Gleicher unter Vielen sein. Israel wurde zur Erfüllung des europäischen Traums, weil Minderheitenrechte nun in Rechte der Mehrheit übersetzt wurden“ (ebd.).
Mannheim- Israel-USA: Jochanan und Gerhard legen Zeugnis ab von einem Stück wenig beachteter Geschichte in dem Jahrhundert, als mit Auschwitz der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) geschah.
Die ausführliche Übersetzung ins Deutsche von Oded Netivi, auf die im Buch gelegentlich verwiesen wird, findet sich hier:
Wie lange kann ein Tag dauern? Wie lange dauert der 7. Oktober 2023 für Israel, für uns? Am 23. Dezember 2023 schrieb Natan Szneider im Blick auf Israel: Es ist immer noch der
7. Oktober. [1] Ein ARD-Team hat jetzt für die Dokumentation „7. Oktober - Krieg ohne Ende?“ mit Überlebenden den Kibbuz Nir Oz besucht bzw. das, was von ihm übrig geblieben ist. Für die, die dem Massaker der Hamas entronnen sind, wird immer 7. Oktober sein. Sie mussten schrecklichste Grausamkeiten mit ansehen, sie haben ihre Angehörigen verloren, sie werden nie vergessen können.
Wir haben größeren Abstand, aber auch hier ist die Erinnerung an den 7. Oktober kaum erträglich. In der Mannheimer Synagoge gab es zum Jahrestag ein sehr berührendes Gedenken. Opfer des Massakers bekamen wieder ein Gesicht, wurden herausgenommen aus der Anonymität der Opferzahl 1200. Es wurde zum Beispiel die letzte WhatsApp-Kommunikation von Vivian Silber mit ihrem Sohn Jonathan gelesen. Sie hatte sich in ihrem Haus im Kibbuz Beeri versteckt, als die Terroristen den Kibbuz eingenommen hatten. Als überzeugte Friedensaktivistin hatte sie früher Kinder aus Gaza in israelische Krankenhäuser zu notwendigen Behandlungen gebracht. Jetzt konnte sie nur noch ihren Sohn und ihre Liebsten grüßen und ihre Dankbarkeit für das Leben im Kibbuz ausdrücken. Von ihrem Haus blieb nichts übrig, es war bis auf einige Scherben niedergebrannt. Vivian Silber war ein Ganzbrandopfer geworden, auf Griechisch holocaustos.
Eine Überlebende des Kibbuz Nir Oz berichtete dem Künstler Luigi Toscano, der sie für seine Ausstellung „Schwarzer Schabbat“ porträtierte, dass sie bei dem Angriff am 7. Oktober unter den Terroristen Leute erkannte, die früher den Kibbuz besucht hatten und denen dort geholfen wurde. Auf die Frage, ob sie das wieder tun würde, den Menschen in Gaza helfen, antwortete sie mit „Ja“.
Marina Münkler weist in ihrer brillanten Analyse in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Oktober „Das Massaker als Triumph“ nach, dass der 7. Oktober von der Hamas bewusst als Massaker und Pogrom inszeniert wurde: „Seine Grundelemente (des Massakers) sind das möglichst grausame Töten, das Martern und Verstümmeln, das Kastrieren und Vergewaltigen. Deshalb ist es auch für die Systematik des Massakers wichtig, dass niemand verschont wird, aber nicht alle getötet werden. Das macht Frau und Kind zu bevorzugten Opfern, denn ihre Vergewaltigung und Verstümmelung reißt zugleich die gesellschaftliche Ordnung auseinander, weil Männer und Väter sie nicht schützen konnten und weil sie, wenn sie überleben, bis an das Ende ihrer Tage, die Zeichen ihrer Verletzung in sich tragen.....Aber das Massaker reichte der Hamas nicht, sie wollten auch den Pogrom. Nach dem Massaker, das im Morgengrauen begann, drangen gegen Mittag auch palästinensische Zivilisten bewaffnet mit Hämmern, Äxten und Mistgabeln in verschiedene Orte ein und beteiligten sich am Abschlachten von Israelis. Was spontan aussieht, war mit Sicherheit inszeniert.....Das Pogrom [2] ist ein weitestgehend ziviles im Sinne eines nicht militärisch organisiertes Ereignis. Es ist das Werk der feindlichen Nachbarn, die „nun endlich“ Gelegenheit gekommen sehen, den „Anderen“ straffrei zu verletzen, zu demütigen, zu töten und ihm zu rauben, was ihm gehört.“ [3]
Innerhalb von zwei Jahren sind wir zweimal „in einer anderen Realität aufgewacht“ (Baerbock). Mit Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war klar, dass das große Wort „Nie wieder Krieg!“ nicht mehr gilt. Am 7. Oktober hat die Hamas gezeigt, dass auch das andere große „Glaubensbekenntnis“ „Nie wieder Auschwitz!“ genauso widerlegt ist. Der Judenhass vom Schlage der Nazis ist längst zurück. Wie bei den Nazis kennt der Terror der Hamas nur eine Lösung- und damit nur eine „Erlösung“- für die Palästinenser: Tod und Untergang für Israel und die Juden. Die überzeugten Nazis kämpften bis zu ihrem Untergang, die Hamas wird es ihnen gleichtun. Insofern besteht „Hoffnung“, hebräisch Hatikwa, und es war gut, dass die israelische Hymne in Mannheim und andernorts am Ende des Gedenkens gesungen wurde.
Vor einigen Jahren gab es eine aufgeregte Diskussion über einen Videoclip in den „Sozialen Medien“. Ein australischer Holocaust-Überlebender hoch in den Achtzigern war mit vier Enkeln nach Auschwitz gereist. Dort nahmen sie am Eingangstor vom Lager Auschwitz und an der Rampe von Birkenau den Clip zum Song von Gloria Gayner „I will survive“ auf. Sie sangen und tanzten, die Jungen sehr freizügig gekleidet. [4] Eine Gruppe von Überlebenden des Nova-Festivals hat etwas Ähnliches gemacht. Sie nahmen auf dem immer noch verwüsteten Gelände des Festivals ein Tanzvideo auf. Zuerst tanzten sie die ausgelassene Festfreude der über 4000 Teilnehmer, dann kam die Darstellung des Massakers mit Menschenkörpern, die in alle Himmelsrichtungen verstreut da lagen, und schließlich standen sie auf und tanzten weiter.
Das ist die Alternative zum Terror: Freiheit und Fest, Aufstehen und Mensch sein.
[1] s. Blog-Eintrag vom 27.3.2024
[2] Pogrom ist russisch und bedeutet „Verwüstung, Zertrümmerung“. Die Herkunft des Wortes ist nicht zufällig: In Russland und anderen osteuropäischen Ländern gab es besonders im
19. Jahrhundert immer wieder Pogrome an jüdischen Gemeinschaften. Aber auch in anderen europäischen Ländern waren gerade kleinere jüdische Gruppen im „Stetl“ insbesondere in der Zeit vor Ostern diesen Gefahren ausgesetzt.
[3] SZ vom 7.10 2024, S. 9
[4] https://www.youtube.com/watch?v=aajPQw47iq4
Von Karl-Heinz zu Jochanan: Der Weg eines Mannheimer Jeckes
Gebundene Ausgabe – 22. November 2024
Die Lebenswege der beiden Mannheimer Brüder Karlheinz (Jochanan) und Gerhard (Jerry) Valfer sind ein weiteres Puzzleteil in der reichen Geschichte des hiesigen Jüdischen Lebens. Aus einem harmonischen und durchaus gehobenen Familienleben herausgerissen, verlaufen die Schicksale völlig unterschiedlich, erleben die Brüder während des Naziregimes Willkür, Lager, Kampf, Not und Elend, finden sich jedoch nach dem Krieg wieder. Dennoch gibt es keinen gemeinsamen Weg, Jochanan bleibt in Israel, Jerry in den USA, auch wenn die Familien trotz der großen räumlichen Distanz sich freundschaftlich verbunden sind. Heinz Sigmund hat die Geschichte der beiden Brüder anhand der Tagebuch-Aufzeichnungen von Jochanan, mit dem er befreundet war, und der Dokumentation von Jerrys Lebensweg im Archiv der Spielbergschen Shoa-Stiftung nachgezeichnet und durch zahlreiche Erläuterungen ergänzt.
im Lutherhaus in Rathenow am 30.09.2024.
Da man ja immer der Zeit voraus sein muss, wurde das Buch schon mal vorgestellt und "die Lesereise" begonnen...
Rathenow war auch abgesehen davon eine Reise wert.
Havelspucker
Am 7. Dezember 2023 schrieb der israelische Soziologe Natan Sznaider: Israels längster Tag dauert nun schon zwei Monate! Der 7. Oktober vergeht in Israel nicht bis heute- kann man zum Frühlingsbeginn 2024 ergänzen. Der bestialische Massenmord der Hamas-Terroristen, die Geiselnahme, die brutalen Vergewaltigungen, die Straßenfeiern mit Süßigkeiten und
Triumph-Geschrei, die mediale Verbreitung der Gräuel sind in Israel noch immer Gegenwart. Anders im Rest der Welt, der auf Gaza blickt, auf die ungeheure Zahl der Toten, auf Hunger und sterbende Kinder. Alle Welt wartet jetzt auf die Lösung des Konflikts. Man will es nicht länger mit ansehen, Hilflosigkeit und Zorn werden unerträglich.
Israel und die Welt können sich (derzeit) nicht verstehen. Sznaider beschrieb am 7.12.2023, was sich bis heute nicht geändert hat: „Seit dem Morgen des 7.Oktober schauen wir in Israel in einen Abgrund, den wir uns in unseren schlimmsten Albträumen nicht hätten vorstellen können. Erinnerungen an Pogrome, an das Töten von Jüdinnen und Juden durch die Nazis im Rausch der Ekstase, an anti-jüdischen Hass sind nun Teil der israelischen Erfahrung….Alle Israelis wissen, dass es kein Zurück zum 6. Oktober geben wird. Auch das israelische Friedenslager wird seine Grundannahmen ändern. Sicher hat Israel Jahrzehnte lang Unrecht in Gaza begangen. Und die Besatzung führt viel zu oft zu Machtmissbrauch. Aber Hamas ist keine anti-kolonialistische Organisation, wie sie von Teilen des progressiven Milieus außerhalb Israels gesehen wird… Sie wollten dieses Massaker, und sie haben die Vergewaltigungen der Frauen, die Erniedrigungen der Kinder und die Grausamkeiten gegenüber Männern stolz gefilmt und verbreitet.“ (In: Der Standard vom 7.12.2023).
Wer in der Zuschauerrolle ist, wo auch immer, wird diese israelische Sicht nicht verstehen können, nicht verstehen wollen oder - wenn mit empathischen Fähigkeiten ausgestattet - nur im Ansatz begreifen. Die existentielle Bedrohung der Israelis ist real, und sie wird in Israel von Linken und Rechten und Unpolitischen geteilt. Die Hamas ist noch da und damit weitere potentielle Massaker. Die Hisbollah schießt täglich vom Libanon aus und verhindert, dass mehr als 100.000 innerisraelische Flüchtlinge in ihre Wohnungen zurückkehren können, und weiter von überwiegend Ehrenamtlichen versorgt werden müssen. Der Iran droht Israel täglich mit Auslöschung und scheint mit seinen Plänen voran zu kommen, denn der weltweite Antisemitismus gewinnt an Sympathie. Die derzeitige Regierung in Israel ist schlecht und hat diese Situation mitzuverantworten. Dennoch sind sich zumindest alle jüdischen Israelis einig - mit Ausnahme von einigen ultra-orthodoxen Ausreißern: Das Land muss verteidigt werden, denn Israel hat das Recht zu existieren. Es war der Wille der Völkergemeinschaft 1947, dass Juden vor Verfolgung und Mord sicher sein dürfen. Dieser kleine Staat, dessen Identität auf diesem kleinen Stück Land eine mehr als dreitausendjährige Geschichte hat, ist der arabischen Bevölkerungsmehrheit in der Region zuzumuten. „Nie wieder Auschwitz!“ heißt aber leider auch Gewalt und Widerstand gegen alle, die die Nazizeit reinszenieren wollen. Eine Enthamasifizierung ist jetzt so notwendig wie es eine Entnazifizierung nach dem 2.Weltkrieg war. Leider gibt es weiterhin Nazis, wie auch immer sie heute angemalt sein mögen, aber realpolitisch waren sie zumindest in der Nachkriegszeit weitgehend bedeutungslos. Genauso wird es weiterhin die Hamas und ähnlich angemalte Terrorgruppen geben, aber sie müssen politisch bedeutungslos werden in Palästina und überall in der nicht nur arabischen Welt. Bestünde über diesen Zusammenhang Einigkeit, könnte man über Lösungen für Gaza und den Nahostkonflikt nachdenken. Darüber und über sogenannte Kontextualisierungen demnächst mehr.