Herzlich willkommen
auf meinem Israelblog!
Herzlich willkommen
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Ein buntes, vielfältiges Bild habe ich von meiner Reise nach Israel vor nunmehr fast anderthalb Jahren mitgebracht. Künstlerisch hat es Sylvie, die auch diesen Blog mitgestaltet, verarbeitet: für mich als Schach-Fan auf 64 Feldern und mit den Farben Chagalls in der Synagoge des Hadassah-Krankenhauses in En Kerem. Grundlage sind Photos, die ich auf meiner Reise gemacht habe.
Inzwischen sind die Zeiten nicht mehr so entspannt und heiter wie auf diesen Bildern, aber ein bisschen Nostalgie darf schon noch sein.
Seit ich zurück bin , sind weitere Einträge entstanden, meist geprägt von Corona und den politischen Entwicklungen.
In dieser Richtung soll es auch weiter gehen, thematisch bleibt Israel Schwerpunkt.
Die Aspekte sind mal mehr politisch, mal mehr theologisch oder auch historisch- generell schreibe ich dann, wenn ich das Gefühl habe, etwas zum Verständnis der doch manchmal unübersichtlichen Lage beitragen zu können.
Unter "Nachgegraben" sind alle Einträge versammelt, die nach meiner Rückkehr aus Israel entstanden sind. Die Texte von der Reise selbst (08.10.-08.12.2019) können nach wie vor bei "Unterwegs" nachgelesen werden, die Bilder von der Reise finden sich im "Israel-Fotoalbum".
Wer regelmäßig, genau und umfassend informiert werden möchte, sei auf den hervorragenden "Compass-Infodienst“ hingewiesen, dem ich zahlreiche Informationen, Perspektiven und Überblicke verdanke.
Wie immer freue ich mich über Reaktionen in den „Kommentaren“ oder auch in ausführlichen Telefonaten (OFW!).
Februar 2021
Aktuelles
04.11.2022
Israel hat (wieder mal) gewählt…
und auf den ersten Blick ist alles anders:
• Netanjahu ist zurück und hat die Wahl klar gewonnen. Sein Bündnis kommt auf 64 von 61 für die Mehrheit erforderlichen Sitze. Seine Partei, der Likud, ist mit 30 Sitzen die stärkste Fraktion in der Knesset.
• Wahlverlierer sind Jair Lapid und seine Partner. Seine Partei Jesch Atid kommt auf 23 Sitze, seine derzeitige noch Koalitionsregierung auf insgesamt 54 Sitze.
• Die Wahlbeteiligung war mit 71,3% erstaunlich hoch. Die prognostizierte Wahlmüdigkeit der Israelis ist nicht eingetreten.
• Der stärkste Wahlgewinner sind die „Religiösen Zionisten“ mit 15 Sitzen. Es handelt sich um ein Bündnis von zwei extrem rechten Partnern: Itamar Ben-Gvir mit seiner Partei Otzma Yehudit (Jüdische Macht) und Bezalel Smotrich mit seiner Partei „Religiöser Zionismus".
• Rausgeflogen aus dem Parlament sind Meretz, die sozialistische Linke, und die arabische Partei Balas. Sie haben die Sperrklausel von 3,25% der Stimmen nicht geschafft. Beide waren mögliche Koalitionspartner von Lapid und haben sein Lager durch ihr Scheitern entscheidend geschwächt.
02.07.2022
22.04.2022
Tanz auf dem Vulkan
Am 24. Februar ließ Putin seine Truppen in der Ukraine einmarschieren und mir wurde nun auch rechts ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Als ich aus der Narkose aufwachte, sah ich für den Rest des Tages die Kriegsberichterstattung im Fernsehen. In meinem benebelten Hirn setzte sich unter anderem der Satz von Außenministerin Baerbock fest: „Wir sind heute Morgen in einer anderen Welt aufgewacht!“. Genau, dachte ich, alles ist irgendwie unwirklich, nichts ist mehr wie es war.
15.02.2022
Amnesty International und die Apartheid
Es gibt Angriffe auf Moscheen und Synagogen in Berlin, es gibt Angriffe auf Moscheen in Gaza, aber es gibt keine Synagogen in Gaza. Warum? Als Israel 2005 den Gazastreifen räumte, machte die Hamas alles platt, was irgendwie wie eine israelische Hinterlassenschaft aussah, natürlich gab es auch keinen Halt vor Gotteshäusern, vermutlich waren sie zuerst dran. Es gibt keine Apartheid im Gazastreifen, er ist ethnisch gesäubert. Zwischen Israelis und Juden wird nicht unterschieden.
05. Dezember 2020
Über einige Antisemitismen (1): Von Alibi-Juden und doppelten Standards
Wenn es doch dieser oder jener Israeli/Jude selber sagt, dann muss es ja wohl stimmen! Wenn nicht das dümmste, so ist es für mich doch eines der ärgerlichsten Klischees, das Antisemiten jeder Couleur von sich geben. Mit diesem Ansatz tingelt dann schon mal eine BDS-freundliche Organisation mit einem oder mehreren israelischen Regierungskritikern durch das Land und klärt israelpolitisch Interessierte über die Wahrheit auf. Den jüdischen Koscher-Stempel für Israelkritik liefern aber auch Intellektuelle wie Judith Butler oder Noam Chomsky bzw. Israelis wie Omri Boehm oder Eva Illouz. Sie erfüllen denselben Zweck: Weil sie so gescheit sind, können sie als Juden erst recht nicht irren und dürfen Israel und seine Politik grundlegend in Frage stellen.
Berühmter und berüchtigter sind „Alibi-Juden“ [1] bei den Rechten. Schon Hitler erklärte: „Wer Jude ist bestimme ich!“ Und so wurden zu Propagandazwecken auch zwei jüdische Sportlerinnen für die Olympiade 1936 in Berlin nominiert, neben der Fechtsportlerin Helene Mayer die Hochspringerin Gretel Bergmann, die aus fadenscheinigen Gründen aber doch nicht starten durfte [2].
Als 2018 die Vereinigung „Juden in der AfD“ gegründet wurde, war ebenfalls die propagandistische Absicht unverkennbar und wurde von 17 jüdischen Organisationen auch so benannt. Die Juden in der AfD sollen das Weltverschwörungsgeschwafel (Höcke) und die Vogelschisstheorie (Gauland) überdecken und möglichst neutralisieren. Der Zentralverband der Juden in Deutschland und andere jüdische Repräsentanten empfehlen hingegen maximalen Abstand zur AfD und warnen vor dem Aufstieg der Neurechten [3].
Ich sehe bei allen Beispielen zwei ähnliche Phänomene:
1. Das Aufführen bzw. Vorführen der „Alibi-Juden“ verschleiert die eigenen Hintergrundmotive. Bei den Rechten dürfte dies unmittelbar einsichtig sein, bei den Linken vermute ich einen latenten Antisemitismus, der Israel sagt, aber Juden meint. Dazu unten Genaueres.
2. Die „Alibi-Juden“ ersetzen fehlende Argumente, haben also Krücken-Funktion. Auch hier kann man sich mit Blick auf rechts die Begründung schenken, da „Faschismus keine Meinung ist“ und sozialpsychologisch erklärt werden muss . Bei den Linken überlappt sich die Argumentationsschwäche mit einem weiteren antisemitischen Topos der „Israelkritik“, dem sogenannten „doppelten Standard“. Damit ist gemeint, dass an Politik und Staat Israel höhere moralische und völkerrechtliche Anforderungen gestellt werden als an andere Staaten [4]. Zum Beispiel wird die Okkupation Nordzyperns durch die Türkei praktisch nie thematisiert und kritisiert, die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete dagegen ständig.
Generell besteht eine starke Schieflage, wenn es um die historischen Bedingungen des Nahostkonflikts geht. Während der Unabhängigkeitskrieg 1948 oft als große ethnische Säuberung dargestellt und häufig mit dem arabischen Begriff bezeichnet wird, werden die Ursachen weitgehend übergangen. Kaum ein Wort über die Vernichtungsrhetorik und -strategie der arabischen Kriegsgegner, kaum ein Wort darüber, was passiert wäre, wenn der junge Staat Israel sich nicht hätte behaupten können. Das gleiche gilt für alle folgenden Kriege, insbesondere für den Sechs-Tage-Krieg 1967. Die Besetzung der Golan-Höhen und des Westjordanlandes waren Folge der arabischen Kriegsziele und nicht Folge von zionistischen Expansionsgelüsten. Es geht mir hier nicht um die Verteidigung militärischer Aktionen und Ziele Israels, sondern um den blinden Fleck im Bewusstsein antisemitischer Linker. Historische Verdrängung bzw. Ahnungslosigkeit werden kompensiert und deshalb sieht man sich im Recht, wenn „Juden bzw. Israelis“ dieselbe Einstellung zum Konflikt haben.
Auch die Verschleierung der eigenen Motive in linken Stellungnahmen zu Israel haben meines Erachtens mit den „doppelten Standards“ zu tun. Die Massaker in Ruanda, der Terror des IS gegenüber Jeziden und anderen Minderheiten, der Staatsterror Assads und seiner Freunde in Syrien finden bei weitem nicht die Resonanz wie die Gaza-Kriege mit weit geringeren Opferzahlen. Das ist verständlich, weil wir Deutsche (und Europäer) an den Katastrophen in Syrien und Ruanda und an vielen anderen Orten der Welt nicht beteiligt sind. In Gaza sind wir das natürlich auch nicht, aber indirekt eben doch. Israel und Deutschland (und Europa) sind historisch für immer miteinander verbunden, auch kommende Generationen werden diese besonderen Beziehungen nicht leugnen können. Während die Rechten einen Schlussstrich machen wollen, aber nicht können, tendieren Linke zur Verdrängung der Geschichte. Was man vergessen will, drängt an anderer Stelle an die Oberfläche. Man will mit der Väter- und Großvätergeneration im Reinen sein und führt gelegentlich deren Kämpfe weiter. Und so sind dann schon mal Entgleisungen möglich wie: „Die Israelis sind auch nicht besser als die Nazis!“ Viele haben den Juden den Holocaust nicht verziehen, Blut ist eben doch manchmal dicker als Wasser!
August Bebel, einem Urgestein der Sozialdemokratie, wird der Spruch zugeschrieben: „Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerle“. Im Blick auf die Linke heute würde ich es erweitern zu: „Die Israelkritik ist der Antisemitismus der gescheiten Kerle“. Wie gesagt, die Auseinandersetzung mit den rechten dummen Kerlen lohnt sich nicht wirklich, zumindest nicht an dieser Stelle. Die Auseinandersetzung mit den „gescheiten“ dagegen schon.
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[1] Die Formulierung klingt anstößig, soll sie auch sein. Verwendet wird sie nach meiner Wahrnehmung insbesondere von jüdischen Medien, um die Vereinnahmungen zurück zu weisen. Ein Beispiel aus der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung vom 15. März 2011:
„Denn wenn selbst Juden gegen israelische Avocados sind, so lautet ihre verquere Botschaft, dann dürfen deutsche Linke getrost das Gleiche empfehlen. Ohne einen »Alibi-Juden« würde man riskieren, mit Nazis in Verbindung gebracht zu werden. Und das wollen die Damen und Herren selbstredend keinesfalls. Dumm nur, dass einem bei derartigen Boykottaufrufen doch immer nur der eine Satz einfällt: »Kauft nicht bei Juden!«
[2] Eindrücklich verfilmt im Jahr 2009 unter dem Titel „Berlin 36“
[3] vgl. R. Steinke, Kommentar in der Süddeutschen Zeitung 7.10.2018
[4] Definition nach EU-Richtlinien, vgl. M. Brumlik, Antisemitismus. 100 Seiten, Bonn 2020, S. 80
07. Februar 2021
Antisemitismus (2): Viele Fragen- und vielleicht doch eine gute Antwort
Worin unterscheiden sich rechter und linker Antisemitismus?
Warum gibt es unter Christen und Muslimen, gar unter Juden, Antisemiten?
Warum gibt es Antisemitismus zu alle Zeiten und warum hört das nicht endlich auf, was ohnehin keiner mehr hören kann?
Und: Warum gibt es überhaupt Antisemitismus?
Antworten auf diese Fragen sind schwierig und so hat es mit der Fortsetzung dieses Themas hier ziemlich lange gedauert. Zum Glück wurde ich kürzlich auf ein kleines, aber hervorragendes Büchlein aufmerksam, das sich an die Beantwortung dieser Fragen wagt: Delphine Horvilleur, Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, 3. Auflage 2020, französischer Originaltitel „Réflexions sur la question antisémite“. Die Autorin, geb.1974, ist liberale Rabbinerin in Frankreich.
Horvilleur (Prolog, S.14-17) räumt gleich zu Beginn mit einem gängigen Fehlurteil auf: Antisemitismus ist nicht einfach eine besondere Spielart von Rassismus, vielmehr gibt es einen grundlegenden Unterschied: Rassisten hassen den anderen für das, was er nicht hat, wie gleiche Hautfarbe, gleiche Sprache, gleich Bräuche und kulturelle Hintergründe. „Nicht-wie ich“, heißt für Rassisten „weniger-als-ich“.
Juden hingegen werden meist für das gehasst, was sie haben, nicht für das, was sie nicht haben. Der Antisemit glaubt, Juden hätten mehr Geld, mehr Macht, mehr Privilegien, mehr Intelligenz, mehr Prestige u.a. Somit verkörpern Juden ein diffuses Unbehagen: Etwas an ihnen ist zu viel, mehr als nötig, „mehr als ich selbst habe“.
Eine weitere Eigenart des Judenhasses im Gegensatz zum Rassismus allgemein ist, daß man Juden gegensätzliche Vorwürfe macht: Einerseits sind sie zu reich, andererseits liegen sie der Gesellschaft, in der sie leben, auf der Tasche. Einerseits sind sie kritisch, revolutionär, provokant eingestellt und stets eine Bedrohung der Gesellschaft, andererseits sind sie reaktionär, ausbeuterisch und die Stützen des Kapitalismus. Einerseits bleiben sie stets unter sich, vermischen sich nicht und wollen etwas Besonderes sein, andererseits sind sie „krakenmäßig“ allgegenwärtig und zersetzen Gesellschaft und Moral. Einerseits lehnen sie das Christentum ab, haben gar Jesus gekreuzigt, andererseits haben sie mit der Bibel eine alttestamentarische Moral in die Gesellschaft eingeschleust, die aus den Gottesdiensten entfernt werden sollte.
Als Rabbinerin sucht Horvilleur in der jüdischen Tradition nach Erklärungen für den Antisemitismus. Das Verhältnis Juden-Nichtjuden (Israel- die anderen Völker) wird darin als Familienkonflikt gesehen, beispielsweise im Verhältnis Jakob-Esau. Schon im Mutterleib stoßen sich die Zwillinge und sind ihr Leben lang durch diese Konstellation traumatisiert. „Juden und Götzendiener teilen sich dieselbe Fruchtblase“ (S.39). Esau repräsentiert in der Folge „eine fertige, gleichsam abgeschlosseneWelt“ , Jakob hingegen ist der Kindliche, Unfertige, „der unbehaarte Glatte“, der erst später zu „Israel“ wird. Unfertig, unabgeschlossen, zukunfts- und interpretationsoffen ist auch das Judentum von seinem Ursprung her. „Was hat eigentlich das Volk später am Sinai gehört, als ihm die Thora überliefert wurde?“, fragen die Rabbinen seit Jahrhunderten und finden die unterschiedlichsten Antworten. Am Sinai
wurde die ganze mündliche Auslegung- also Mischna und Talmud- gleich mitgegeben, sagen die einen. Nein, nur die 10 Worte (Dekalog), sagen die anderen. Nein, nur der allererste Buchstabe, das Aleph, der kaum gesprochen wird- ein Hauch- ist wiederum eine andere Interpretation. Und so gilt generell: Das Judentum war von Anfang an unfertig, offen für die Zukunft und das Selbstverständnis, im Grunde nicht fassbar. Und gerade darum war, ist und bleibt es eine Provokation für andere Völker, die ihre Identität suchen, für andere Religionen, die sich im Besitz der Wahrheit meinen, letztlich für alle Ideologien, die schlüssige Welterklärungen gefunden haben.
„Ich habe nun den Grund gefunden“, heißt ein schönes, frommes Lied im Evangelischen Kirchengesangbuch. Wir haben es im Studium scherzhaft „das Taucherlied“ genannt. Und tatsächlich mag es für den Taucher eine entscheidende Sache sein, „den Grund zu finden“, aber für Glauben und Religion ist es eher ein falsches Bild. Nicht Dogmatik, nicht die eherne Wahrheit, nicht der feste Grund sind die Kennzeichen der biblischen Religion, sondern der Aufbruch, der Weg ins Offene, das ständige „Ausgehandelt-werden-müssen“, was dieser Gott von seinen Leuten will.
Horvilleur nennt diesen generationenübergreifenden Konflikt zwischen Juden und den Anderen sehr schön „das Stottern der Geschichte“. Jüdisches Leben heißt: Kein Reich Gottes auf Erden wird errichtet, kein Kairos Palästina, Europa oder Südafrika oder sonstwo löst politische Konflikte in Wohlgefallen auf, kein Weltgeist kommt im dialektischen Prozess der Geschichte zu sich selbst, weder Sozialismus/Kommunismus, noch Humanismus, noch Pazifismus löst die Menschheitsfragen. Die Geschichte will einfach nicht aufgehen, der „Ganzheitstraum“ (S.110) bleibt unerfüllt.
Judentum bzw. Israel repräsentiert diese Stottern der Geschichte und den Mangel an Ganzheitlichkeit. 2003 führte die Europäische Kommission eine Umfrage durch mit der Fragestellung, „welche Nation die größte Bedrohung für den Weltfrieden sei“. Gewinner war Israel, deutlich vor Iran, Irak und Nordkorea entsprechend dem Glauben „wenn Israel nicht wäre, könnte die Welt schön, intakt, wunderbar versöhnt sein (S. 111). Der Antisemitismus speist sich im Wesentlichen aus diesem Unbehagen. Individuell ist der Mensch auf der Suche nach Ganzheitlichkeit, er will mit sich selbst im Reinen sein. Esoterik und Religion können aber nicht ausreichend liefern. Als ich noch Gemeindepfarrer war, hat man an meinen Predigten immer mal wieder einen Mangel an Trost beklagt. „Heile Welt“ wollen die Leute hören. Aber es gibt sie halt nicht, es gibt keinen „festen Grund zu finden“, es gibt nicht „den Sinn des Lebens“, es gibt auch keinen Gott, der definierbar und dogmatisch fassbar wäre. Aus „alttestamentarischer“ Sicht ist das völlig klar: „Du sollst dir kein Bild von Gott machen!“ (2. Mose 20,4/ 5.Mose 5,8). Das Judentum hält sich dran und wird dafür gehasst. Das ist der gemeinsame Nenner aller kollektiven Konstruktionen, die sich eine heile Welt ohne Israel herbeisehnen.
Mag sein, dass Horvilleurs Untersuchung nicht alle Fragen zum Antisemitismus beantwortet. Aber sie liefert meines Erachtens eine überzeugende Erklärung für den gemeinsamen Nenner des Antisemitismus der „dummen Kerle“ (der Rechten, der Identitären, der Verschwörungstheoretiker, der christlichen und muslimischen Fundamentalisten) und dem subtilen Antisemitismus (der Linken, der Pazifisten, der intellektuellen Idealisten unterschiedlichster Couleur): in sich konsistente Ideologien werden immer Probleme mit dem Judentum haben, weil weder Gott noch die Wahrheit zu haben sind.
Es bleibt uns der "Vor-Schein" (Ernst Bloch), das "Schon" und "Noch-nicht“ vom Reich Gottes (Jesus) und das "Gehen und Lernen" (Halacha). Und ganz konkret die Gretchenfrage für potentielle Antisemiten: Wie hältst Du es mit Israel? Soll es sein oder soll es nicht sein?
17. April 2021
Antisemitismus (3):
Ein neues Schibbolet
(5)Gilead nahm die Furten des Jordans ein, die nach Efraim führten. Wenn ein Flüchtling Efraims sagte: "Ich will übersetzen“, fragten ihn die Männer Gileads: „Bist du ein Efraimiter?"
Sagte er: (6) “Nein“, sagten sie zu ihm: „Sag mal Schibbolet", das heißt ´Fruchtzweig`.
Sagte er dann „Sibbolet“, weil er es nicht anders aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und töteten ihn an den Furten des Jordan...
Richter 12, 5f. Übersetzung BigS
Der Streit um den Antisemitismus ist inzwischen zum „Schibbolet“ geworden. Der Begriff Antisemitismus ist in seiner Bedeutung unklar geworden. Wer meint was, wenn er/sie Antisemitismus sagt? Es kommt inzwischen auf den Zungenschlag an, was mit Antisemitismus gemeint ist. Schibbolets (auch Schibboleth) sind Wörter, die den Rang eines sozialen Codes haben, hier besser eines politischen. Das Wort Antisemitismus ist weitgehend mutiert zur Frage:
Wie hältst du es mit Israel?
Und wie schon der Bibeltext zeigt, geht es um eine ernsthafte Sache, mitunter gar um Leben und Tod. [1]
Am 26.März haben über 200 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich in ihrem Fachgebiet auch mit Antisemitismus beschäftigen, die „Jerusalem Declaration On Antisemitism“ (JDA) verabschiedet, wie der Name sagt an dem bedeutungsträchtigen Ort Jerusalem. [2]
Damit wenden sie sich gegen die „IHRA-Definition“ von Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde und weltweit häufig als „Arbeitsdefinition“ für Antisemitismus verwendet wird. [3] Zwischen Israelfreunden und Israelkritikern/-feinden ist damit ein veritabler Streit entfacht worden, ob diese Erklärung überhaupt nötig war.
Ich nenne hier einfach mal fünf Pro-Und-Contra-Argumente, die mir als wesentlich erscheinen:
Pro JDA
1. Die Definition von IHRA ist unbrauchbar geworden, weil sie als „Deckmantel“ oder als „Fetisch“ der Israelfreunde benutzt wird, um Kritik an der Politik Israels zu verunglimpfen [4].
2. Die Fixierung auf israelbezogenen Antisemitismus in der IHRA-Erklärung lenkt von der weit größeren Gefahr des rechtsextremen Antisemitismus ab und spaltet im Kampf gegen Antisemitismus[5].
3. Der Kampf gegen Antisemitsmus ist „gekidnappt“ worden von einer rechten Internationalen von Orban über AfD bis hin zu Bibis Sohn Jair, die selbst rassistisch sind und beispielsweise gegen eine „globalistische EU“ kämpfen und für ein „christliches Europa“ [6].
4. Tatsächlich geht es um das Verständnis von Israel als Staat: Die Israelfreunde sehen Israel alternativlos als „jüdischen Staat“. Es ist aber nicht antisemitisch, Israel eine andere, säkulare Verfassung geben zu wollen.
5. Tatsächlich geht es auch um einen innerjüdischen Konflikt: Juden in der Diaspora (vor allem in Nordamerika, aber auch in Europa usw.) wollen sich ihr Jude-Sein nicht von Israel her definieren lassen und auch außerhalb Israels „richtig“ als Juden leben können.
Contra JDA
1. Die JDA ignoriert die Forschung der letzten 60 Jahre zum Judenhass und fällt hinter die IHRA-Erklärung zurück. Die über 200 unterzeichnenden WissenschaftlerInnen sind keine wirklichen Fachleute auf diesem Gebiet [7].
2. Immer wieder wird die falsche Ansicht in JDA kritisiert, Antisemitismus sei (nur) eine Sonderform von Rassismus [8].
3. Übergangen wurde insbesondere der „indirekte Antisemitismus“ (=Camouflage), der sich in indirekten Sprechakten wie „Israel-Lobby“ oder „Israel ist unser Unglück“ zeigt. Israelbezogener Antisemitismus sei heute tatsächlich die vorherrschende Variante nicht der alte „völkische“ Antisemitismus der Rechten [9].
4. Auffällig in JDA ist die neun Mal wiederkehrende Formel „nicht per se antisemitisch“. Was soll das heißen? Eigentlich nicht antisemitisch- aber irgendwie doch? Damit kriegen BDS-Kampagne, Antizionismus, Apartheid-Vorwürfe u.ä. eine Art „Koscher-Stempel“ und werden vom Antisemitismus-Verdacht freigesprochen [10].
5. Frei heraus wie immer formuliert Rafael Seligmann: „Nützliche Idioten der Antisemiten“ und meint, die Unterzeichner hätte die Folgen ihrer Aktion nicht bedacht und „sollten ihre Deklaration auf den Müll werfen“ [11].
Hätte ich zu biblischen Richter-Zeiten gelebt, wäre ein Efraimiter gewesen und hätte dringend über den Jordan gehen müssen- ich hätte das Schibbolet immer wieder geübt, damit der Zungenschlag im Ernstfall passt. Wenn ich heute von Antisemitismus spreche, komme ich nicht umhin zu fragen, was für ein „Efraimiter“ ich denn heute bin und ob ich überhaupt „über den Jordan“muss. Was geht mich die Sache an?
Klar ist: Ich bin weder Israeli noch Palästinenser. Ich erlebe den Konflikt nicht am eigenen Leib.
Klar ist auch: Ich bin als Nicht-Jude nicht unmittelbar betroffen, ich will aber mit dem, was ich sage, sowohl Israelis als auch „Diaspora-Juden“ unter die Augen treten können.
Klar ist auch, dass ich als Deutscher eine Sprache spreche, die bezüglich Antisemitismus viel Unheil angerichtet hat.
Also werde ich „mein Schibbolet“ so sprechen, dass der Begriff Antisemitismus niemals irgendwelche Menschenrechtsverletzungen rechtfertigt - auch wenn sie von Organen des Staates Israel begangen werden. Auch will ich niemals in Verdacht geraten, mit irgendwelchen Antisemiten („per se“ oder nicht) in einem Boot zu sitzen. Die überwiegende Mehrheit der Juden außerhalb und innerhalb Israels sieht BDS als Bedrohung und antisemitisch an [12], darum ist jeglicher „Boykott“ von Übel, zumal er an übelste deutsche Geschichte erinnert. Ich gehe ja auch nicht auf eine Demo mit Queridioten, Verschwörungstheoretikern und Rechtsradikalen, wenn mir die Politik zur Eindämmung der Covid-Pandemie nicht gefällt.
______________________________________________
[1] A. Knauf erläutert das Schibbolet mit einer schwyzerdütschen Parallele: „Chuchichäschtli“,
https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/schibbolet/ch/
[2] https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf
[4] So M. Roseman und S. Schüler-Springorum im Deutschlandfunk am 26.03.21 in „Jerusalemer Erklärung....“
Ähnlich Aleida Assmann im Interview von 3sat Kulturzeit:
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/gespraech-mit-aleida-assmann-ueber-die-jerusalemer-erklaerung-100.html
[5] A. Assmann in NZZ vom 07.04.21 u.a. Wider Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden: die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus
[6] Hanno Loewy, Falsche Freunde, falsche Feinde in TAZ vom 29.3.21.
Gilt auch für 4. und 5. Loewys Ausführungen scheinen mir die vernünftigsten, deshalb haben sie hier mehr Gewicht.
[7] M. Schwarz-Frieling, Julia Bernstein, L. Rensmann, Faktisch falsche Prämissen, Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 8.April 2021, S.8.
[8] z.B. R. Balke, Neblige Schlagworte JAW 8.4.21 , S. 2; s. dazu auch unten: „Antisemitismus (2)- viele Fragen und vielleicht doch eine gute Antwort“
[9] M. Schwarz-Frieling u.a. a.O
[10] M. Küntzel, Aber irgendwie doch, in: Perlentaucher-das Kulturmagazin vom 08.4.21
[11] R. Seligmann, Jerusalemer Erklärung- Nützliche Idioten der Antisemiten,
in: Cicero Online 29.März 2021
[12] vgl. J. Baier, Antisemitismus in der BDS-Kampagne, besonders Anmerkung 3: Unterstützer von BDS sind Hamas, Islamischer Dschihad, PFLP, aber nicht die stärkste palästinensische Gewerkschaft und die Autonomiebehörde.
https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/328693/antisemitismus-in-der-bds-kampagne
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Heinz Sigmund
Ein gutes Neues Jahr, Shana Tova, allen Leserinnen und Lesern!
Hans-Peter Huber
Ich denke die Armee führt den Krieg genau zum richtigen Zeitpunkt. Jetzt kann Netanyahu den Krieg richtig gut gebrauchen. Die Araber muss er jetzt schon mal nicht an der Regierung beteiligen.Erstes Zi
Hans Peter Huber
Die Hamas unterhält Lager mit mehreren 1000 Raketen im Gazastreifen. Da frage ich mich, wie so etwas sein kann ohne dass die israelische Armee etwas dagegen tut. Da steckt doch etwas dahinter?
Heinz
um die Fatah/Abbas in der West Bank zu schwächen! Andererseits hat Netanjahu immer versucht Krieg zu vermeiden...
Heinz
Der zur Zeit wohl bekannteste israelische Schriftsteller David Grossman bestätigt heute im Interview mit der SZ im Grunde Deine Spekulation: Bibi hat zugelassen, dass Qatar die Hamas aufrüstet....
Heinz
Das Geld kommt von Qatar, die Waffen vom Iran- so viel dürfte klar sein. In 7 Jahren kann man allerhand ansammeln. Hätte die Armee den Krieg früher führen sollen? Auch Bibi hat daran kein Interesse...
Ruth
Es bedarf Mut, diese Rolle des Helfers/ der Helferin zu hinterfragen und eine neue
Positionsbestimmung vorzunehmen.
Heinz
Bei Linken habe ich noch die Hoffnung, dass sie ihr Denken und Verhalten reflektieren können, bei Rechten eher nicht. Daher argumentiere ich nur Richtung links
Ruth
Zu "Über einige Antisemitismen": Ich sehe bei linken Intellektuellen ein Verhaltensmuster: Sie wollen die armen, schwachen Palästinenser gegen das aggressive, koloniale Israel verteidigen.
Michael
Habermas würde noch ergänzen "... wie wir im Wald kommunizieren." Allerdings folgt aus der Begrenztheit unsrer Erkenntnis nicht Blödheit, sondern Verantwortung!
Michael
Ja das war damals mit Kant schon ein erkenntnistheoretischer Hammer : "Das Ding an sich ist nicht erkennbar." Wie wir kategorial in den Wald rufen ....
Michael
... und hat auch eine politische Bedeutung, wie in Deiner Anmerkung 2 zu lesen ist.
Heinz
Ja, aber gerade das wollte ich ändern und lieber Herzl zitieren: Wenn ihr wollt, ist es kein Traum! Jetzt ist es zu spät und Du hast den Finger drauf gelegt. Aber so ist das halt mit der Geschichte
Michael
Gestaute Zeit. Vielleicht wie die Aufgabe aus dem Zen-Buddhismus "mit einer Hand klatschen". – Was ist eigentlich der Stand der Geschichte Gottes mit Israel?
Heinz
Wieder ist die Frage, ob Du den richtigen fragst und wie Du es meinst! Wer ist Israel? Staat, Volk, Religion, identisch mit Judentum? Theologisch würde ich sagen, die Geschichte geht weiter...
Sylvie
Hallo Heinz, gerade ist mir beim Einkaufen ein christlich, fundamentaler Verschwörungstheoretiker begegnet. Habe versucht mit der christl. Seuchenbekämpfung aus deinem Text zu argumentieren
Heinz
oh, oh. mein Opa hat immer gesagt: "Des is, wie dem Ochs ins Horn gepetzt!"